Die Verantwortung für die Zunge

Vor über fünfundzwanzig Jahren war ich als Au-Pair in der Nähe von Chicago tätig. Ich lebte in einer jüdischen Familie und kümmerte mich um zwei wunderbare Jungs. Der Kontakt zur Familie besteht bis heute.

Die Davidsons, so heißt die Familie, nahmen mich mit zu allen Festlichkeiten in der Synagoge. Irgendwann fing ich an, in der Gemeinde Kurse zu belegen, nicht, weil ich konvertieren wollte, die Absicht bestand nicht, denn ich bin recht zufrieden mit meinem eigenen Glauben, sondern weil mir die jüdischen Philosophen und Gelehrten gefielen und ich spürte, dass ich viel von ihnen lernen konnte. So war es auch und so ist es bis heute.

An folgende Geschichte, die ich dort im Rahmen eines Kurses zu „Lashon hara“ kennengelernt habe, musste ich in den letzten Tagen öfters denken.

Ich weiß nicht mehr genau, wo die Geschichte spielt, vermutlich irgendwo in einer kleinen Stadt in Osteuropa, denn die meisten jüdischen Geschichten, die in den Vereinigten Staaten von Amerika erzählt werden, spielen sich irgendwo in Osteuropa ab.

In Osteuropa lebte ein Mann, der bekannt dafür war, sehr viel über andere Leute zu reden. Er konnte sich einfach nicht beherrschen. Jedes Mal, wenn er über jemanden, den er kannte, eine Geschichte hörte, musste er sie seinen Freunden erzählen. Manchmal konnte er sich nicht mal zurückhalten über Geschichten von Leuten, die er nicht kannte. Er musste einfach das Gerüchte verbreiten.

Er liebte es, die Gerüchte und Geschichten zu verbreiten, besonders weil er dabei Aufmerksamkeit bekam. Er liebte die Aufmerksamkeit so sehr, dass er schnell lernte, die Geschichten ein wenig auszuschmücken, um sie lustiger und spannender zu machen. Nicht selten erfand er dabei einfach weitere Details.

Tief drinnen wusste er, dass sein Verhalten falsch war, aber es war zu verlockend, die Aufmerksamkeit zu bekommen. Er beruhigte sich stets selbst damit, dass er sich einredete, dass seine Geschichten in seinen Augen harmlos und unterhaltsam waren. So glaubte er jedenfalls.

Eines Tages erfuhr er etwas wirklich Seltsames über einen bekannten Geschäftsmann in der Stadt. Er fühlte sich direkt verpflichtet, die Geschichte zu verbreiten. Er erzählte sie seinen Freunden, die wiederum ihren Freunden und die besprachen es mit all den Leute , die sie kannten. Sie erzählten es ihren Freunden, Familien, Bekannten und Nachbarn. Die Geschichte verbreitete sich in der ganzen Stadt und sogar über die Grenzen der Stadt hinaus, bis der unglückliche Mann, der die Hauptfigur der Geschichte war, selbst davon erfuhr.

Der Geschäftsmann war sehr entsetzt und ging zum Rabbi der Stadt und beklagte sich, da er nun ruiniert sei. Niemand wollte nämlich nach diesem Vorfall noch was mit ihm zu tun haben. Sein guter Ruf und sein Ansehen waren dahin.

Der Rabbi kannte den Mann, der gerne Geschichten erzählte und beschloss, ihn auf ein Gespräch einzuladen. Als der Rabbi dem Mann erzählte, dass seine Geschichte dem Geschäftsmann derart geschadet hatte, dass er nun am Boden zerstört war, tat es ihm wirklich leid. Er erklärte zur Entschuldigung, dass er die Geschichte selbst ehrlich gesagt gar nicht für so schlimm gehalten hatte und außerdem sei sie im Grunde ja auch noch wahr. Der Rabbi könne sich sogar selbst von der Wahrhaftigkeit der Geschichte überzeugen. Der Rabbi seufzte nur und sprach:

„Wahr oder nicht wahr, das spielt hier keine Rolle! Du darfst einfach keine Geschichten über Menschen erzählen, denn das alles ist Lashon hara, was ist Verleumdung. Es ist wie Mord. Du tötest den Ruf einer Person.“

Der Mann, der das Gerücht verbreitet hatte, fühlte sich schlecht und zeigte reumütig. Er fragte: „Was kann ich tun, um es ungeschehen zu machen? Ich werde alles tun!“

Der Rabbi sah ihn an und fragte: „Hast Du ein Federkissen in Deinem Haus?“

„Rabbi,“ erwiderte der Mann, „ich bin kein armer Mensch. Ich habe viele Federkissen. Was soll ich damit machen? Soll ich sie verkaufen, um das Geld dem Geschäftsmann als Wiedergutmachung zu geben? Ich mache es sofort.“

„Nein,“ sagte der Rabbi, „bring mir einfach nur ein Federkissen.“

Der Mann war verwirrt, ging nach Hause und kehrte wenig später mit einem schönen flauschigen Kissen unter dem Arm zum Rabbiner zurück. Der Rabbi reichte ihm ein Messer und sprach: „Schneide es auf!“

„Aber Rabbi, hier in der Synagoge? Das wird eine Unordnung machen!“

„Du hast Recht. Lass uns zum Fenster gehen und schneide dort das Kissen auf.

Sie gingen zum Fenster, öffneten es und der Mann schnitt das Kissen auf. Eine Wolke von Federn kam heraus. Sie flogen aus dem Fenster hinaus und flogen über die Straßen, über die Plätze und in die Wälder am Stadtrand. Einige Katzen auf der Straßen spielten mit den Federn und rannten damit davon. Der Rabbi und der Mann betrachten das Schauspiel ein paar Minuten. Dann sprach der Rabbi zu dem Mann: „Jetzt bring mir die Federn zurück und stopfe sie zurück in dieses Kissen. Es müssen aber alle Federn sein, verstehst du? Keine einzige Feder darf fehlen!“

Der Mann starrte den Rabbi ungläubig an. „Das ist unmöglich, Rabbi. Sie sind in alle Winde geflogen. Sie sind weg, Rabbi. Das kann ich einfach nicht.“

„So ist es“, sprach der Rabbi ernst. „Sobald eine Geschichte aus Deinem Mund kommt, sei es ein Gerücht, ein Geheimnis oder nur Klatsch, sei die Erzählung nun wahr oder falsch, weißt du nicht, wo die Geschichte alles hinfliegen und enden wird. Die Geschichten fliegen auf den Flügeln des Windes, und du kannst sie nie wieder zurückholen! Jetzt geh zu dem Menschen, über den du die Geschichte verbreitet hast. Rede mit ihm. Höre ihm zu. Dann geh nach Hause und studiere mindestens ein Jahr lang täglich die Gesetze über Lashon hara. Studiere alles ganz genau. Lerne und dann kehre zu dem Geschäftsmann zurück. Versöhne dich mit ihm.“

Das ist es, was der Mann tat. Er lernte, Verantwortung zu übernehmen für seine Zunge. Nach einem Jahr kehrte er zum Geschäftsmann zurück. Sie sprachen lange miteinander und trafen sich danach immer wieder. Vielleicht wurden sie sogar Freunde. Ob der Geschäftsmann dem Mann verziehen hat, das wissen nur die beiden selbst.

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About tapferimnirgendwo

Als Theatermensch spiele, schreibe und inszeniere ich für diverse freie Theater. Im Jahr 2007 erfand ich die mittlerweile europaweit erfolgreiche Bühnenshow „Kunst gegen Bares“. Als Autor verfasse ich Theaterstücke, Glossen und Artikel. Mit meinen Vorträgen über Heinrich Heine, Hedwig Dohm und dem von mir entwickelten Begriff des „Nathankomplex“ bin ich alljährlich unterwegs. Und Stand Up Comedian bin ich auch. Mein Lebensmotto habe ich von Kermit, dem Frosch: „Nimm, was Du hast und flieg damit!
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