Es ist schon spannend, wie viele Künstlerinnen und Künstler sich gerade in dem diesjährigen Wettbewerb schrill, bunt und selbstverliebt als Opfer inszenieren und dabei gar nicht merken, dass es diesmal einen Menschen gibt, um den sich ein pogromhafter Mob voller Hass versammelt.
Eden Golan muss sich in Malmö verstecken. Sie bekommt Morddrohungen. Weit über zehntausend Menschen versammeln sich auf den Straßen und verlangen ihre Entfernung. Ein Journalist fragte sogar, ob ihr nicht schon mal in den Sinn gekommen sei, dass ihre pure Anwesenheit die anderen Künstler in Gefahr bringt. So weit sind wir: Allein schon die Existenz einer Israelin wird zum Problem erklärt. Viele verlangen, dass sie einfach weg muss.
Mich erschreckt in diesem Zusammenhang besonders die Empathielosigkeit der Queer-Community. Es ist bitter, wie laut sie zu diesem offen gezeigten Hass schweigt. Ich stelle sogar fest, dass die queere Community in Malmö gerade mehrheitlich auf Seiten der Faschisten ist, die sich gegen diese junge 20-jährige Jüdin mobilisiert.
Mich wundert dieses unsolidarische Verhalten jedoch nicht. Wer nämlich davon überzeugt ist, dass Identität etwas ist, das man sich aussuchen kann und nicht etwas, das sich einritzt und zu dem man sich nur verhalten kann, der ist besonders anfällig für den Faschismus.
Die Hautfarbe, das Geschlecht, die Sprache, mit der die Eltern zu einem sprechen, der Glaube, in dem man erzogen wird, die Flora und Fauna, die um einen herum ist, all das sucht man sich nicht aus. Man kann sich jedoch, wenn man erwachsen ist, dazu verhalten und Verantwortung übernehmen für diese Dinge, an die man keine Schuld trägt.
Eden Golan macht genau das. Sie übernimmt Verantwortung für die Situation, in der sie sich befindet, und sie macht das vorbildlich. Ich bin beeindruckt, mit welcher Ruhe, Disziplin, Friedfertigkeit und Liebe sie auf all den Hass reagiert. Sie erinnert mich an die queeren Ikonen der ESC-Vergangenheit, wie Dana International und Marija Šerifović, die sich auch nicht als Opfer inszeniert haben, sondern als verantwortliche Subjekte in einer Welt, in der manche sie brechen wollten.
Wenn ich mir dagegen heute manch eine privilegierte und zum Mainstream gehörende queere Person im Eurovision Song Contest anschaue und sehe, wie ihr Gesicht entgleitet, wenn man sie auf Israel anspricht, dann läuft es mir kalt den Rücken runter. Dann aber mache ich mir klar, dass diese Leute einer Ideologie angehören, die behauptet, das biologische Geschlecht sei etwas, das man sich aussucht und nicht etwas, zu dem man sich verhält. Sie glauben, Herr und Meisterin über sich und über die Welt zu sein. Sie glauben sogar, das Recht zu haben, die Gedanken der anderen zu versklaven, in ihre Sprache mit Gewalt eindringen zu dürfen, damit sie sich so verhalten, wie sie es wollen. Sie sind die Tyrannen, die erwarten, dass man sie so sieht und anspricht, wie sie es wollen. Sie übernehmen keine Verantwortung für die Welt mit all ihren Ungerechtigkeiten, sondern sie wollen sich mit Gewalt die Welt Untertan machen.
Wenn Menschen mit einer solchen Überzeugung die Macht bekommen, ihren Willen durchzusetzen, dann wird es spannend. Wie gehen Sie mit der Gewalt um, die sie nun selber nutzen können?
Mich erinnern manche queere Ideologen von heute an mittelalterliche christliche Inquisitoren. Das Christentum begann als Religion der verfolgten und unterdrückten Menschen, aber kaum waren sie an der Macht, wurden sie selber zu den Unterdrückern. Unterdrückt wurde alles, was in ihren Augen nicht gut, friedlich und den wahren Glauben hatte. Unterdrückt wurde alles, was sie als böse erachteten. Sie waren die Guten. Was mit Nächstenliebe begann, wurde zur Inquisition.
Die Frage lautet nun: Wie gehe ich damit um, dass die Gemeinschaft, der ich mich zugehörig fühle, sich so verrennt?
Es ist nicht so, dass ich aufgehört habe, an die Prinzipien zu glauben, die einst die queere Community bewegten. Der queere Glaube ist nicht das Problem, die woke-queere Kirche ist das Problem! Aus dieser woke-queeren Kirche bin ich ausgetreten.
So wie in der Geschichte viele christliche Kirchen mit dem Faschismus gemeinsame Sache gemacht haben, so macht jetzt auch die woke-queere Kirche mit dem Faschismus gemeinsame Sache. Manch ein queer bewegter Weltverbesserer ist zum Faschisten geworden. Ich weiß aber auch, dass es zwar viele Christen gab, die sich dem Faschismus unterworfen haben, aber eben auch viele Christen, die sich gegen den Faschismus gestellt haben.
Ich sehe mich auch als Teil der queeren Bewegung an. Ich verstehe die Wurzeln dieses Denkens. Ich werde mir den Begriff „queer“ daher nicht von irgendwelchen verrückten Fanatikern kaputtmachen oder wegnehmen lassen. Ich frage daher klar: Wo also sind all die queeren Menschen, die verurteilen, was gerade in unserem Namen passiert? Wer kritisiert die Übergriffe, die Kälte, die Gewalt und vor allem die Absage von Vernunft und Menschlichkeit all der queeren Schreihälse?
(Und wo wir schon bei dem Vergleich mit der römisch-katholischen Kirche sind? Wo ist der Aufschrei gegenüber der Frauenfeindlichkeit und der Übergriffigkeit gegenüber Kindern in dieser queer-woken Kirche?)
Eine Kritik an diese neuen Auswüchse muss mit dem folgenden Gedanken beginnen. Die queere Bewegung muss endlich wieder diesen einen Satz verstehen: Geschlecht ist nicht etwas, was man sich aussucht, sondern etwas, zu dem man sich verhält.
Wer das nicht akzeptieren kann, akzeptiert die Menschlichkeit nicht und somit auch nicht den Menschen. Mensch sein bedeutet, Verantwortung zu tragen in einer Welt, an deren Existenz man keine Schuld trägt, für die man aber Verantwortung übernehmen muss, mit all den Stärken und Schwächen, die man hat und mit all der ungleichen Verteilung von Talenten.
Der Mensch muss lernen, Verantwortung zu übernehmen, statt neidisch zu sein. Er muss Verantwortung übernehmen, weil er zu dieser Verantwortung berufen wurde!

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