Die alte Frau

Tapfer im Nirgendwo präsentiert eine gekürzte Fassung des Artikels „Die alte Frau“ von Hedwig Dohm, erstmals erschienen im Jahr 1903 in Die Zukunft. Der ungekürzte Text findet sich heute in dem Buch „Hedwig Dohm. Ausgewählte Texte“ herausgegeben von Isabel Rohner und Nikola Müller.

Ich wünsche mir, dass dieser Text auch heute noch bei vielen Geburtstagen alter Frauen gelesen wird.

Ich liebe dich, alte Frau.

Ich möchte, dass die alte Frau sich weiß kleide. Ich meine, ihr gebührt die Farbe, die dem Licht verwandt ist. Etwas Priesterliches, Erdentrücktes, Lichtsuchendes möchte ich an ihr sehen. Man sagt, dass die alte Frau den Spott herausfordert, wenn sie Dinge tut, die ihrem Alter nicht angemessen sind. Nicht angemessen sind oder nicht für angemessen gelten? Dieser Unterschied ist wichtig.

Von dem, was für unangemessen gilt, beruht das meiste auf Gewohnheit und Zeitvorurteil. Ein Beweis dafür ist, dass ein Tun, das die alte Frau lächerlich macht, bei dem gleichaltrigen Mann Beifall, oft den allerlebhaftesten, findet. Eine alte Frau mit Schlittschuhen an den Füßen, auf dem Fahrrad, auf dem Pferd, – lächerlich; der achtzigjährige Moltke auf dem Pferd wurde als eine bewundernswerte Erscheinung angestaunt; dem weißbärtigen Schlittschuhläufer folgen nur wohlwollende Blicke.

Höre, alte Frau, was eine andere alte Frau dir sagt: Stemme dich an! Habe Mut zum Leben! Denke keinen Augenblick an dein Alter. Die Jüngsten können vor dir ins Grab steigen. Den Tod vorausdenken, vorausfühlen, heißt ihm entgegeneilen, heißt die Gegenwart entrechten. Wenn du nur noch einen einzigen Tag lebst, hast du eine Zukunft vor dir.

Tu, was dir Freude ist, soweit deine Geistes- und Körperkräfte reichen. Gerade, weil du nicht mehr lange Zeit vor dir hast, schöpfe jede Minute aus.

Spotte des Spottes, mit dem man dich einschüchtern, dir die Türen zur Freude sperren will. Das Recht zu leben hat das Kind wie die Greisin. Werde immerhin alt für die anderen: nicht aber für dich.

Was habt ihr Alten denn nach der Gesellschaft – die längst über euch hinweg gegangen ist – zu fragen? Wer von der Gesellschaft nichts mehr will, hat nichts mehr von ihr zu fürchten. Das Grab gönnt jeder uns. Duckmäuser ihr! Was horcht ihr noch immer auf Beifall und Zischen dieser Gesellschaft?

Wenn ihr Lust und Kraft dazu habt, so radelt, reitet, schwimmt, entdeckt auf Reisen neue Schönheiten, neue Welten.

Lasst euer weißes Haar, wenn ihr es habt und es euch bequem ist, frei um das Haupt wallen. Mischt euch unter die Lernenden. Beinahe kommt es mir lächerlich vor, dass ihr euch schämt, noch nach Wissen zu trachten, als wäre das Absterben ein lieblich ernstes Geschäft, das zu hemmen indezent wäre.

Klagst du, Alte, dass die Menschen nichts mehr von dir wissen wollen?

Man hat dich die Zaubersprüche nicht gelehrt, mit denen man die Schätze des Geistes hebt?

Ja, das ist’s.

Gegen den Tod ist kein Kraut gewachsen; aber gegen den zu frühen Tod des Weibes sind viele Kräutlein gewachsen. Das kräftigste heißt: bedingungslose Emanzipation der Frau – und damit die Erlösung von dem brutalen Aberglauben, dass ihr Daseinsrecht nur auf ihrem Geschlecht beruhe. Gebt der Frau einen reicheren Lebensinhalt, einen Beruf.

Untätigkeit ist der Schlaftrunk, den man dir, alte Frau, reicht. Trink ihn nicht! Sei etwas! Schaffen ist Freude. Und Freude ist fast Jugend.

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(TINHED)

Über tapferimnirgendwo

Als Theatermensch spiele, schreibe und inszeniere ich für diverse freie Theater. Im Jahr 2007 erfand ich die mittlerweile europaweit erfolgreiche Bühnenshow „Kunst gegen Bares“. Als Autor verfasse ich Theaterstücke, Glossen und Artikel. Mit meinen Vorträgen über Heinrich Heine, Hedwig Dohm und dem von mir entwickelten Begriff des „Nathankomplex“ bin ich alljährlich unterwegs. Und Stand Up Comedian bin ich auch. Mein Lebensmotto habe ich von Kermit, dem Frosch: „Nimm, was Du hast und flieg damit!
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