„Mein lieber Herr Kokoschinski!“

Eine Erinnerung von Alpha O’Droma.

Ich will eine Geschichte über Hans Rosenthal erzählen.

Mein Stiefvater, Manfred Kuckuck, wäre beinahe mal Profifußballer geworden. Unter dem legendären Hanne Sobek hatte er es in der Saison 62/63 mit dem SCC Charlottenburg sogar mal ins DFB-Viertelfinale geschafft, doch dann kam der Meniskusschaden, heute ein Witz, damals das Karriereende.

In den frühen 70ern spielte er ab und zu noch bei den alten Herren mit oder in diversen Prominentenmannschaften. So kam es auch, dass wir einmal im Jahr gegen Hänschen Rosenthals Truppe antraten. Auf dem Fußballplatz nannte ihn jeder nur „Hänschen“, was auch an seiner Statur gelegen haben mag, denn er war klein und schmächtig, doch sein Herz war das eines Wals. Als Berliner Jude entging er nur knapp dem Tod, musste in den Vierzigern Zwangsarbeit in einer Fabrik leisten, entkam bei einem Bombenangriff und überlebte das Kriegsende versteckt in einer Laubenkolonie, doch nach dem Krieg blieb er in Deutschland und arbeitete beim Radio.

Wie wir war er sehr fußballbekloppt, leider für den falschen Verein, Tennis Borussia, dem er lange als Präsident vorsaß. Und schon früh ging es bei ihm um die gute Sache. Regelmäßig veranstaltete er Benefizspiele mit anderen Prominenten, deren Einnahmen zum Beispiel deutschen Kriegerwitwen zugute kamen – und das als von den Nazis geknechteter Jude!

Doch Hänschen kannte keine Vorurteile, auch wenn er in jungen Jahren auf dem Fußballplatz noch oft als „Drecksjude“ beschimpft wurde, er lächelte all dies weg und begegnete dem Hass mit seiner allumfassenden Menschenliebe. Und die Menschen spürten das. Es sprach sich herum, dass dieser kleine Wicht ein ganz Großer war. Und ein Gentleman.

Wie ihr sicher wisst, herrschen auf dem Fußballplatz eigene Sitten. Jeder wird geduzt, der Humor ist so derb wie die Fouls und der Ton so rau wie die Schotterplätze, auf denen die Pelle stets liegen blieb, wenn man fiel. Vierundvierzig blutende Knie begleiteten jede Begegnung, denn Rasenplätze gab es nur für die Topteams. Und in dieser Welt der harten Kerle bewegte sich Hans Rosenthal mit ausgesuchter Höflichkeit, siezte jeden und behandelte auch das schnoddrigste Arbeiterkind wie den hochprominenten Gast einer seiner Sendungen. Er liebte Kinder, spielte mit uns oft Kicker und verlor dabei absichtlich. Wir vergötterten ihn.

Eines Tages, es stand mal wieder eine Benefizspiel gegen seine Promi-Elf an und ich stand wie immer hinter dem gegnerischen Tor, da kam es zu jenem legendären Foul.

In Manfreds Mannschaft spielte ein Stürmer namens Koko, fast zwei Meter groß, athletisch, behaart wie ein Affe, ein richtiger Bigfoot.

Onkel Manfred (Stiefväter nannte man weiland so) flankte von links herein, doch die Flanke kam etwas zu tief für Koko, der Torwart, irgendein Schauspieler, dessen Name mir ums Verrecken nicht mehr einfällt, faustete sie heraus, direkt auf Hänschen, der den Ball mit der Brust stoppte, ihn sich vorlegte und gerade weiter passen wollte, als Koko herangestürmt kam und ihn von hinten umsenste. Koko traf dabei sogar den Ball, doch Hänschen Rosenthals im Weg befindliche Beine schossen dabei eine derartige Sonne, dass ein kollektives „AUUUOOO!“ über den Platz schallte – von Spielern und Zuschauern gleichermaßen.

Es sah grotesk aus, dieser eingesprungene Rosenthal mit anderthalb Schrauben, eine unglaubliche Übung, die so nie wieder geturnt werden sollte. Nur die Landung wirkte ungesund, als das schmächtige Kerlchen halb seitwärts und halb rücklings zu Boden krachte und die damals noch unbekannten Spiegelneuronen uns allen schmerzverzerrte Minen aufs Antlitz zauberten. Der Pfiff des heran sprintenden Schiris erklang noch vor der Landung. Er gab Gelb – damals eine Sensation, speziell bei Freundschafts- oder gar Benefizspielen – denn Gelb gab es in den Siebzigern in der Regel eigentlich nur bei offenen Schien- und Wadenbeinbrüchen, so etwas wie simple Bänderrisse durch Blutgrätschen wurden meist mit einer Ermahnung abgetan.

Wie durch ein Wunder hatte sich Hänschen nicht schwer verletzt, er sammelte seine Knochen zusammen und ging humpelnd auf Koko zu. Normalerweise hätte jeder deutsche Fußballspieler jetzt etwas Unverbindliches geschrien wie „Du hast wohl den Arsch offen, du debiler Kackspast!“ oder ihm eine gelangt, nicht jedoch der unglaubliche Hans Rosenthal.

Er baute sich dicht vor Koko auf, was an sich schon komisch wirkte, da dieser ihn um fast zwei Köpfe überragte, stemmte seine Fäuste in die Hüften und sprach mit vorwurfsvoller Stimme das seinen Tod überdauernde Bonmot: „Mein lieber Herr Kokoschinski …“

Wir haben Tränen gelacht, alle bis auf Koko, der wirklich untröstlich war und sich mit hängendem Kopf vielmals entschuldigte. Für Hänschen war das Spiel vorbei, er zog beide (!) Beine nach, was ebenfalls einen Touch von Slapstick hatte, und ließ sich sofort auswechseln.

Nicht nur Koko wurde sein Leben lang mit diesem Spruch gehänselt, auch meine Eltern sollten, wann immer ich Scheiße baute, und das war nicht selten, sich vor mir aufbauen, die Fäuste in die Hüften stemmen und „Mein lieber Herr Kokoschinski!“ knurren.

Der „Herr“ ging irgendwann verloren, aber zuweilen hört man den Satz immer noch, auch wenn niemand die dazu gehörige Anekdote mehr kennt. Ich hoffe, ich konnte diese Bildungslücke schließen.

Es sollte fast vierzig Jahre später sogar zu einem Déjà-vu kommen: Anno 2009 schaute ich eines Samstags die Sportschau und plötzlich schoss mir das Bier aus der Nase, weil ich so unfassbar lachen musste. Kickers Offenbach spielte grade ein Drittligamatch gegen den VFL Osnabrück, die in den Strafraum stürmten, da hörte ich den Kommentator rufen: „Kokoschinski von hinten in die Beine – UIIIH, ein böses Foul!“

Tatsächlich spielte bei Offenbach ein Michael Kokocinski im Mittelfeld, und auch wenn ich mir nicht mehr sicher bin, wie Kokos Nachname damals geschrieben wurde, kann man sicher davon ausgehen, dass es sich bei jenem Offenbacher Kickers-Rüpel um einen direkten Nachfahren handeln muss …

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(TINAOD)

Über tapferimnirgendwo

Als Theatermensch spiele, schreibe und inszeniere ich für diverse freie Theater. Im Jahr 2007 erfand ich die mittlerweile europaweit erfolgreiche Bühnenshow „Kunst gegen Bares“. Als Autor verfasse ich Theaterstücke, Glossen und Artikel. Mit meinen Vorträgen über Heinrich Heine, Hedwig Dohm und dem von mir entwickelten Begriff des „Nathankomplex“ bin ich alljährlich unterwegs. Und Stand Up Comedian bin ich auch. Mein Lebensmotto habe ich von Kermit, dem Frosch: „Nimm, was Du hast und flieg damit!
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