Haren (Ems) ist eine kleine Gemeinde im Emsland in Niedersachsen. Es ist der Ort, wo ich geboren wurde und wo ich bis zu meinem 18. Lebensjahr gelebt habe. In Haren gibt es einen kleinen jüdischen Friedhof.

Dieser Friedhof erinnert an die Zeit, da es noch eine jüdische Gemeinde mit einer Synagoge in Haren gab. Diese Zeit jedoch ist lange vorbei.
Im November des Jahres 1938 wurde die Harener Synagoge zerstört und in der folgenden Zeit die jüdische Gemeinde der Stadt ausgelöscht. Nur wenigen Jüdinnen und Juden gelang die Flucht.
Im November des Jahres 2020 wurde bekannt, dass in einem bislang nicht näher einzugrenzenden Tatzeitraum mehrere Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof durch das Einritzen von mehreren Hakenkreuzen geschändet wurden. Einige Beschädigungen könnten nach Bewertung der Spuren an den Grabmählern bereits mehrere Monate alt sein. Der polizeiliche Staatsschutz hat die Ermittlungen übernommen.

An dem Ort, wo einst die Harener Synagoge stand, steht heute eine evangelische Kirche. Davor steht ein Mahnmal, das an die Namen der vertriebenen und ermordeten Jüdinnen und Juden der Stadt erinnert.

Es war in den frühen Morgenstunden des 10. November 1938 als die Synagoge in Haren niedergebrannt wurde. Rudel Möllering war damals ein kleiner Junge. Zum fünfzigsten Jahrestag des Pogroms berichtete er für die Meppener Tagespost, wie er früh morgens zur Toilette ging und dabei das Feuer entdeckte:
„Im Dunkeln kam ich zur Toilette, machte die Tür auf und sah durch das Fenster ein irres Licht. Feuer. Faszination und Beklemmung. Alles dunkel draußen und dann dieses Feuer. Zehn Minuten. Zwanzig Minuten. Ein groteskes Schauspiel. Nichts störte die Flammen.„
Über die Zeit danach sagte Rudel Möllering:
„Wie ein Traum schien der Brand ausgelöscht. Ich hatte alles miterlebt und konnte nun nichts sagen. Ich war nicht stolz oder betroffen oder voller Angst und Unsicherheit. Das Ungeheuerliche war nur nicht einzuordnen. Es war, als wenn ein Schweigen sich breitmachen würde. Es gibt Dinge, über die redet man nicht.“
Günter war ein jüdischer Junge in Haren, dessen Vater für seine Verdienste im Großen Krieg mit dem Ehrenkreuz Zweiter Klasse ausgezeichnet worden war. Ein ehemaliger Klassenkamerad von ihm berichtete in den achtziger Jahren für die Schülerzeitung „Judenpogrom 1938 in Haren“ der Realschule Haren:
„Wir gingen jeden Morgen zusammen zur Schule. Er wurde im Kaufe der Zeit immer stiller und ich fragte ihn, was los sei. Er aber wollte nichts erzählen. Ungefähr gegen Ende des Jahres 1937 kam es öfter vor, dass man bei den Juden auf der langen Straße, dort gab es drei verschiedene jüdische Metzgereien, die Schaufensterscheiben eingeworfen hatte. Mein Klassenkamerad wurde dann natürlich oft gefragt, wer denn die Scheiben wohl eingeschlagen hatte, er sagte jedoch ständig, dass er nichts wisse. Ich bemerkte nur, wie er immer stiller und stiller wurde. Wenn einem jüdischen Geschäftsmann eine Scheibe eingeworfen wurde, war es sehr schwer die zu ersetzen, da ihnen kein Glas verkauft werden durfte.“
Eine Brücke über die Ems führt nach Haren. Vor dieser Brücke stand einst eine alte, dicke Eiche. Irgendwann hing ein großes Schild an dieser Eiche: „JUDEN SIND IN DIESEM ORTE UNERWÜNSCHT!“
Sehr schnell folgten auch Schilder in den Harener Geschäften: „JUDEN WERDEN IN DIESEM GESCHÄFT NICHT MEHR BEDIENT!
Es gab zwar einige Geschäftsleute, die die Auslagen so in ihre Schaufenster platzierten und stapelten, dass man die Schilder nicht lesen konnte, aber es war eine Minderheit.
Günter war zehn, als die Synagoge in Haren niedergebrannt wurde. Er erfuhr davon, als er in der Schule war. Sein Schultag begann mit zwei Stunden Sport auf dem Schulhof. Plötzlich rief ein Schüler: „Herr Lehrer, da brennt es!“ Die Schüler blickten in die Richtung, wo Qualm über die Dächer zu sehen war. Ein Schüler fragte erstaunt, warum denn kein Brandhorn zu hören sei und der Lehrer erwiderte: „Da wird auch wohl kein Brandhorn gehen!“
Als Günter fragte, warum denn kein Brandhorn zu hören sei, fuhr ihn der Lehrer an: „Ja, Du Judenlümmel, was meinst Du wohl, was da passiert? Euern Tempel brennen sie ab!“
Was an der Synagoge geschah, beschrieb eine Zeitzeugin so:
„Am Morgen hielt ein kleiner Laster aus der Stadt Meppen vor der Synagoge in Haren. Junge SA-Männer sprangen ab, um mehrere Strohballen in die Synagoge zu schleppen. Sie zündeten diese dann mit Fackeln an. Da das Feuer aber nicht brennen wollte, zerschlugen sie alle Fenster und Türen, damit der Rauch besser abziehen konnte.“
Vor der Synagoge lag die Tora im Dreck. Männer hatten darauf uriniert. Ein anderer Zeitzeuge berichtete für die Schülerzeitung „Judenpogrom 1938 in Haren“:
„Als ich in die jetzige Werftstraße einbog, sah ich die Synagoge brennen, man warf immer wieder kleine Dosen mit Benzin hinein. Das Dach war schon eingestürzt. Es war mit Schiefer bedeckt gewesen. Die Eingangstür war herausgerissen. Es waren Männer in SA-Uniform dort und ich habe viele erkannt. Unter anderem stand ein Beamter in Dienstuniform dabei, den ich kannte. Er fragte mich: „Was willst Du denn hier?“ „Ich will mir das mal ansehen“, sagte ich. Darauf sagte er zu mir: „Geh mal da hinten hin. Da müssen sie knüppeln, die Judenlümmel, die Libanontiroler!“
Mehrere Juden wurden mit Fußtritten und Genickschlägen immer wieder in Richtung der Synagoge getreten. Sie wurden gezwungen, die Wände der qualmenden Synagoge niederzureißen. Sie hatten ihre Hemden abgerissen und um ihre Hände gebunden. Ein älterer Jude hatte kein Fleisch mehr an seinen Händen. Es war nur noch Blut zu sehen. Sein Name war Jakob Jakobs. Er war der Opa von Günter.
Bis in den Nachmittag hinein wurden die Juden gezwungen, die Wände der ausgebrannten Synagoge niederzureißen. Gegen drei Uhr nachmittags kamen SA-Männer mit einem Wagen angefahren. Ein SA-Mann hatte einen Topf mit einem Kaktus in der Hand. Er ging auf einen Juden zu und zwang ihn, den Kaktus auf den Kopf zu setzen und dort festzuhalten. Rudel Möllinger war Zeuge dieser Erniedrigung:
„In der Kirche wurde über böse Juden geredet, aber das waren für mich andere gewesen. Das Bild vom Juden mit dem Kaktus hatte alles verändert. Die beiden alten Juden gingen langsam vom Platz vor der zerstörten Synagoge auf die Schulstraße. Zwei SA-Männer folgten den beiden mit etwas Abstand, dann kam das Auto mit den beiden anderen. Und dann kamen wir, eine Horde schweigender Kinder, eine Prozession. Alle Kinder gingen mit, die größeren fassten die kleinen an die Hand. Ich hatte keine Gedanken während des Weges. Es ging mir nichts durch den Kopf. Ich sah immer nur den alten Juden mit dem Kaktus auf dem Kopf.“
Sie gingen zu den Häusern der Juden, um dort alles kurz und klein zu schlagen. Eine Zeitzeugin berichtete:
„Sie zerschnitten die Betten und zerstörten die ganze Inneneinrichtung. Dies wiederholten sie bei drei und vier anderen jüdischen Familien.“
Überall warfen die SA-Männer die Blumentöpfe von den Fensterbänken und zwangen Juden, diese Blumentöpfe aufzusetzen. Innerhalb weniger Tage danach wurden alle jüdischen Bürgerinnen und Bürger Harens abgeholt und ermordet, darunter Levy, Erich, Regine, Leopold und Lotte Sternberg, sowie Sara, Isaak und Iwan Frank. Ebenfalls vertrieben wurden Gottfried Frank, Sally, Bela und Minna de Vries.
Auch Günter wurde mit seinen Eltern Ivan Jakobs und Minna Jakobs (geb. Sternberg) und seiner Schwester vertrieben. Seine Familie wurde vergast. Er selbst überlebte das Lager in Bergen-Belsen und wanderte später in die Vereinigten Staaten von Amerika aus, wo er sich in Denver niederließ. Zu einer ehemaligen Schulkameradin sagte er später: „Hunderttausend Meilen sind zu wenig zwischen mir und Deutschland.“
An all diese Namen erinnert das Mahnmal, das an der Stelle der ehemaligen Synagoge steht. Heute steht dort eine evangelische Kirche. Sie trägt den Namen Martin Luther Haus. Dies hat zur Folge, dass heute direkt über den Namen der ermordeten Juden der Stadt der Name Martin Luther steht.

Haren (Ems) ist eine mehrheitlich katholische Gemeinde. Die evangelische Gemeinde ist eine Minderheit.
Ob es eine gute Idee war, auf dem Platz der ehemaligen Synagoge ein evangelisches Haus zu errichten, mag dahingestellt sein. Es ist jetzt so. Es lässt sich nicht mehr ändern. Was sich jedoch ändern lässt, ist der Name des Hauses. So wichtig Martin Luther für die evangelische Kirche auch sein mag, so klar ist es auch, dass er vor fünfhundert Jahren exakt das gefordert hatte, was am Morgen des 10. Novembers 1938 in Haren geschah. In seinem „Handbuch über die Judenfrage“ forderte Martin Luther:
„Ich will meinen treuen Rat geben. Erstlich, dass man ihre Synagoge oder Schule mit Feuer anstecke, und was nicht verbrennen will, mit Erde überhäufe und beschütte, dass kein Mensch einen Stein oder Schlacke davon sehe ewiglich …“
Beim Nürnberger Prozess erklärte der nationalsozialistische Publizist Julius Streicher:
„Antisemitische Presseerzeugnisse gab es in Deutschland durch Jahrhunderte. Es wurde bei mir zum Beispiel ein Buch beschlagnahmt von Dr. Martin Luther. Dr. Martin Luther säße heute sicher an meiner Stelle auf der Anklagebank. In dem Buch ‚Die Juden und ihre Lügen‘ schreibt Dr. Martin Luther, die Juden seien ein Schlangengezücht, man solle ihre Synagogen niederbrennen, man soll sie vernichten.“
Julius Streicher hatte Recht damit. In seiner Abhandlung „Über die Jüden und ihre Lügen“ erklärte Martin Luther:
„Die Juden sind ein solch verzweifeltes, durchböstes, durchgiftetes Ding, dass sie 1400 Jahre unsere Plage, Pestilenz und alles Unglück gewesen sind und noch sind. Summa, wir haben rechte Teufel an ihnen.“
Dass nun ausgerechnet dieser Name über die Namen der jüdischen Opfer der Stadt Haren prankt, darf als durchaus geschmacklos bezeichnet werden, wenigstens aber als geschichtsvergessen.
Es wundert mich, dass diese Geschmacklosigkeit noch niemandem aufgefallen ist. Dann aber wird mir klar, dass auch die Hakenkreuze auf den Grabsteinen des jüdischen Friedhofs in Haren vermutlich schon vor längerer Zeit dort eingeritzt wurden.

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