Lasst uns das jüdische Leben feiern!

„Doch die 1700-jährige Geschichte des Judentums in Deutschland lässt sich leider nicht erzählen, ohne auch über Verfolgung, Völkermord und Judenhass zu sprechen.“

Dies schreibt der Außenminister der Bundesrepublik Deutschland, Heiko Mass, in seinem Gastbeitrag für die WELT und spricht dann leider fast ausnahmslos über Verfolgung, Völkermord und Judenhass.

Heiko Maas beginnt seinen Artikel mit dem Hinweis auf das früheste schriftliche Zeugnis für jüdisches Leben in Köln aus dem Jahr 321. Dann erwähnt er kurz die Namen Moses Mendelssohn, Hannah Arendt, Albert Einstein, Gustav Mahler, Else Lasker-Schülers, Heinrich Heine und Franz Kafka. Danach widmet er sich die restlichen achtzig Prozent des Artikels ausschließlich dem Judenhass.

Heiko Maas erklärt in seinem Beitrag die „universellen Werte zu verteidigen“ und spricht in diesem Zusammenhang vier Punkte an: Erstens: Kampf gegen internationalen Antisemitismus. Zweitens: Kampf gegen Vorurteile an Schulen. Drittens: Gedenken des Holocausts. Kampf gegen Judenhass und Hetze im Internet. Danach setzt er einen Seitenhieb gegen Donald Trump ab und spricht zum Schluss noch von Tätern, Opfern und Sündenböcken.

Diesen Beitrag schrieb Heiko Maas im Rahmen der Feierlichkeiten von 1700 Jahren erste schriftliche Erwähnung von jüdischem Leben am Rhein. Wenn Juden feiern, prosten sie sich zu und sagen „Lechaim“. Es bedeutet: „Auf das Leben“. Heiko Maas aber rückt den Tod in Vordergrund.

Die Erinnerung an das Jahr 321, als erstmals jüdisches Leben in Köln schriftlich erwähnt wird, ist in erster Linie eine Feierlichkeit für jüdisches Leben in Deutschland und keine Gedenkveranstaltung für jüdisches Sterben in Deutschland.

Heiko Maas hat es bestimmt gut gemeint, aber mit seinem Beitrag hat er einer Veranstaltung, die eigentlich als freudiges Ereignis gedacht ist, einen gewaltigen Dämpfer verpasst. Er wirkt wie ein Mann, der zu einer Party kommt, von der sie weiß, dass dort einige Gäste ein Trauma haben, nur um dann zu sagen: „Ich finde es wirklich schrecklich, was ihr alles erleben musstet. Das macht mich ganz betroffen. Schrecklich. Schrecklich. Schrecklich. Prösterchen!“

In Deutschland findet Judentum fast nur noch in Gedenkstunden statt. Juden sind Gespenster von damals und werden als Opfer der Vergangenen bewältigt. In Schulen taucht das Judentum deutlich öfter im Geschichtsunterricht auf, als im Philosophie-, Ethik-, Religions- oder Gesellschaftskundeunterricht.

Wenn man in New York sagt: „Heute gehen wir in ein jüdischen Stück“, dann freuen sich alle. Jüdisches Theater, das steht in Amerika für spritzige Dialoge, humorvoller Tiefgang, für Woody Allen und Neil Simon. Wenn man aber in Deutschland sagt: „Heute gehen wir in ein jüdisches Theaterstück“, dann kommen deprimierte Gesichter. In Deutschland steht jüdisches Theater für Auschwitz, Holocaust und Anne Frank. Juden sind für viele Deutsche nur die Opfer von damals, nicht die Lebenden von heute. Genau dieses Problem bedient Heiko Maas, der aus eigener Erklärung „wegen Auschwitz“ in die Politik gegangen ist.

In vielen deutschen Städten gibt es mittlerweile mehr Stolpersteine als lebendige Juden. Auf dem Weg zur Arbeit, zum Einkaufen, zur Party und nach Hause, überall trifft man in Deutschland auf tote Juden. Eine deutliche Mehrheit aller Deutschen trifft heute im Alltag deutlich öfter auf tote Juden als auf lebendige. Die Mehrheit der deutschen Schüler war in KZ-Gedenkstätten, aber sagen: „Ich habe noch nicht einen Juden kennengelernt.“

Natürlich ist es wichtig, die Verbrechen nicht zu vergessen, aber es ist nicht gut, Menschen auf den Moment ihrer Ermordung zu reduzieren. In Deutschland haben mehr Juden Denkmäler dafür bekommen, ermordet worden zu sein, als dafür, etwas geschaffen zu haben. Solange in Deutschland mehr Denkmäler für ermordete Juden stehen als für Juden, die aus ihrer eigenen Schöpfungskraft etwas erreicht haben, werden es lebendige Juden in diesem Land schwer haben.

Was würden Sie über Nachbarn denken, die nur zu Beerdigungen innerhalb Ihrer Familie auftauchen, aber nie zu Geburtstagen? Was denken Sie über Menschen, die aus jeder Party ihrer Familie ein Trauerspiel machen wollen?

Es gibt zwei verschiedene Arten der Erinnerung: Es gibt Menschen, die erinnern sich, weil sie nicht vergessen können, weil der Schmerz nie ganz verschwindet und dann gibt es Menschen, die erinnern sich, weil sie nicht vergessen wollen, sie wollen etwas aus dem Schmerz lernen. Es ist jedoch nicht ihr Schmerz. Sie instrumentalisieren die Erinnerung an den Schmerz lediglich für ihre (guten) Zwecke. Heiko Maas instrumentalisiert in seinem Beitrag die Erinnerung an den Schmerz sogar, um noch mal schnell Donald Trump zu kritisieren.

Jene, die sagen, wir dürfen nicht vergessen, müssen auch an die Nachfahren und Verwandten der Opfer denken, also an jene, die nicht vergessen können, weil das Unvergessliche und Unverzeihliche Teil ihres Lebens ist. Sobald wir gedenken, weil wir gedenken wollen und nicht, weil wir nicht vergessen können, ist es unsere Pflicht, aufgrund des puren Vorhandenseins unseres Interesses, gedenken zu wollen, Bescheidenheit zu üben gegenüber jenen, die nicht vergessen können.

Juden können den Holocaust nicht vergessen. Er ist brutaler Teil der eigenen Familiengeschichte. Damit umzugehen, ist schon schwer genug. Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sind unerträglich. Warum aber muss dafür immer wieder zwanghaft das Judentum bemüht werden?

Juden sind keine Zwangsarbeiter deutscher Erinnerungskultur!

Statt jüdische Organisationen nur zu kontaktieren, um gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit ein Zeichen zu setzen, statt eine Feierlichkeit zu jüdischem Leben als Platform zum politischen Kampf gegen Hass und Hetze zu nutzen und dabei jüdisches Sterben in den Vordergrund zu rücken, wie wäre es damit, jüdische Organisationen die kommenden Jahre vermehrt zu kontaktieren, um das lebendige Judentum zu feiern?

Juden brauchen keine Dramaturgen aus der Politik, die erklären, wie Nächstenliebe funktioniert. Juden und ihre Nachbarn können in Deutschland auch einfach mal nur das Leben feiern. So kann jüdisches Leben wieder gedeihen. Die Erinnerung kommt dann von ganz alleine.

„Das jüdische Volk lebt!“

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Über tapferimnirgendwo

Als Theatermensch spiele, schreibe und inszeniere ich für diverse freie Theater. Im Jahr 2007 erfand ich die mittlerweile europaweit erfolgreiche Bühnenshow „Kunst gegen Bares“. Als Autor verfasse ich Theaterstücke, Glossen und Artikel. Mit meinen Vorträgen über Heinrich Heine, Hedwig Dohm und dem von mir entwickelten Begriff des „Nathankomplex“ bin ich alljährlich unterwegs. Und Stand Up Comedian bin ich auch. Mein Lebensmotto habe ich von Kermit, dem Frosch: „Nimm, was Du hast und flieg damit!
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