Verantwortung und Freiheit

Aufgrund des Anstiegs der Zahl der Corona-Fälle und jener, die an Covid-19 gestorben sind, wurden scharfe Ausgangsbeschränkungen von der Regierung erlassen und mehrere Berufe mit einem einstweiliges Berufsverbot belegt, um so die Ausbreitung des Virus einzudämmen. In Anbetracht dieser weitreichenden Maßnahmen ist es notwendig, folgendes festzustellen:

Uns werden gerade keine Freiheitsrechte genommen, sondern wir gewähren unseren gewählten Vertreterinnen und Vertretern gerade lediglich Einschränkungen in unsere Freiheitsrechte für eine gewisse Zeit des Notstands und der Krise. Diese Unterscheidung ist wichtig, damit jene, die auch nur im Geringsten daran denken, diese Gewährleistung zu missbrauchen, die vollste Kraft unseres Widerstands zu spüren bekommen.

Freiheit wird nicht gewährt. Kein Staat oder irgendein anderes weltliches Gebilde kann Freiheit gewähren. Der Mensch trägt die Freiheit in sich. Der Mensch ist Mensch, weil er frei ist. Die menschliche Freiheit kann lediglich eingeschränkt werden, entweder weil ein Mensch freiwillig diese Einschränkung zulässt oder weil er mit Gewalt dazu gezwungen wird.

Für die gewalttätige Einschränkung der Freiheit braucht es gute Gründe, weil es den Menschen ausmacht, frei zu sein.

Freiheit bedeutet, nicht willenlos Befehle und Anordnungen einer externen Macht ausführen zu müssen, wie eine Maschine, die programmiert wurde, sondern sich zu der Welt, in der man sich befindet, in moralisch bewertender Zuwendung zu verhalten und somit das eigene, aber auch das Handeln fremder Personen in richtig, falsch, gut und böse einzuteilen. Der Mensch ist sich selbst stets Rechenschaft schuldig und somit gewissermaßen zur Freiheit verurteilt.

Wer kennt sie nicht, die Bisse des Gewissen, die besonders dann spürbar werden, wenn man alleine ist und wenn keine großen Ablenkungen die Gedanken zerstreuen. Das Coronavirus hat uns zurück in unsere Höhlen geworfen. Die Straßen sind ruhig, die Amüsiermeilen geschlossen und keine bunten Lichter laden zum Vergnügen.

In unseren Höhlen werden wir erst einmal ungewohnt aktiv. Einige applaudieren aus ihren Fenstern den Helferinnen und Helfern in der Krise zu, andere singen Lieder des Muts und der Hoffnung von ihren Balkonen und wieder andere kommunizieren über moderne Medien mit Freundinnen und Freunden, mit Verwandten und Bekannten.

Der Mensch ist ein soziales Wesen. Menschen kümmern sich um andere Menschen. Der Mensch ist sogar in der Lage, sich für andere Wesen zu opfern. Es gehört zum Wesen des Menschen, sich in Freiheit opfern zu können. Ein Opfer kann jedoch nicht nur freiwillig erbracht werden. Es gibt auch erzwungene Opfer. Die Geschichte ist voll von Menschen, die gegen ihren Willen geopfert wurden. Auch jetzt wird von vielen Menschen ein Opfer verlangt.

Der Mensch möchte gebraucht werden und seiner Existenz einen Sinn geben. Er sucht nach einer Aufgabe im Leben und möchte Verantwortung übernehmen. Aber nur ein freier Mensch kann Verantwortung übernehmen. Wer nicht frei ist, kann sich nicht verantworten für eine Tat, auf dessen Ausführung er keinen Einfluß hatte. Wie also verhalten wir uns in Zeiten wie diesen, da ein gefährlicher Virus grenzenlos wütet, während wir in abgesteckten Höhlen hocken?

Können wir darauf hoffen, dass sich freie Menschen dazu entscheiden, zum Wohle alter, schwacher und kranker Menschen ihre wirtschaftliche Existenz aufs Spiel setzen und sogar Maßnahmen ergreifen, die im schlimmsten Fall zu schweren Depressionen und seelischen Störungen führen können? Welcher Zwang ist in Anbetracht dieser globalen Gefahr gerechtfertigt? Welche Strafen dürfen angewandt werden?

Ich bin von Beruf Bühnenkünstler. Zusammen mit vielen Kolleginnen und Kollegen übernehmen wir gerade gemeinsam mit Menschen aus anderen Berufsgruppen Verantwortung zur Einschränkung der Ausbreitung des Virus. Wir nehmen dafür sogar Einbußen in Kauf, die die eigene Existenz gefährden.

Bei diesen Angst, Stress und Sorge auslösenden Kraftanstrengungen kommt es unweigerlich auch mal vor, dass ein derart gestresster Menschen mal fragt, ob diese Maßnahmen überhaupt notwendig sind und wann sie enden. Ein Theaterkollege von mir, der sich massiv für andere Mensch einsetzt, leitete mir am Tag 8 der Beschränkungen eine Mail weiter, die er erhalten hatte, nachdem er öffentlich ein paar kritische Fragen zu dem aktuellen Umgang der Regierung mit der Viruskrise gestellt hatte. Die Mail las sich so, als hätte er mit seinen Fragen des Teufels höchstpersönliche Botschaft des Hasses in die Welt trompetet:

„Nur ein Depp kann jetzt mit solch dämlichen Fragen kommen. Wer jetzt noch meint, sich nicht an die Vorgaben halten zu müssen und damit unser aller Gesundheit und Leben gefährdet, gehört in den Knast. Wenn der Knast zu voll ist, dann soll er mit einer Fußfessel in die eigene Wohnung eingesperrt werden und jedes mal, wenn er die Wohnung verlässt glich 1000 Euro Strafe. Ihr weinerlichen Idioten. Eure Freiheit? Heult doch! Wer immer noch nicht kapiert, dass solche Einschränkungen uns allen zu Gute kommen, der wird es nie begreifen und gehört weggesperrt.“

Mal ganz angesehen davon, dass dem Autor dieser Zeilen offensichtlich nicht klar ist, dass überfüllte Knäste nicht gerade hilfreich sind im Kampf gegen eine Virusepedemie, es sei denn, die Knäste werden komplett von der Außenwelt abgeschnitten und die Insassen ihrem Schicksal überlassen, zeigen diese Zeilen, warum gerade in Zeiten der Pest die Hexenjagd, Judenverfolgung und Inquisition Hochkonjunktur hatte. Wer Angst hat vor einem Feind, den er nicht sehen kann, sucht sich Feinde, die er sehen kann, um sich an ihnen abzureagieren. Es ist daher grob fahrlässig, wenn dieser Durst nach Schuldigen von einer Regierung durch hastig aus dem Hut gezauberte politische Strafanordnungen bedient wird.

Am 24. März 2020 veröffentlichte die Landesregierung NRW einen Straf- und Bußgeldkatalog zur Umsetzung eines Kontaktverbots, das sie vorher erlassen hatte. Dieser Strafkatalog ist völlig kontraproduktiv.

Mit dem Erlass des Kontaktverbots bekamen die Exekutivorgane die Befugnis, öffentliche Versammlungen und andere potentielle Gefahrenherde aufzulösen. Diese temporäre Bemächtigung ist sinnvoll. Es ist jedoch nicht hilfreich, die Menschen, die sich nicht daran halten zu bestrafen.

Wir befinden uns in hoch sensiblen Zeiten. Es gibt Menschen die erkranken, manche sterben. Einige vereinsamen, andere kommen vor Angst und Sorge fast um. Die Situation ist nur sehr schwer zu ertragen.

Manche verlassen daher ihre Wohnungen, treffen Freunde und brechen die Regeln, weil sie es einfach nicht mehr aushalten, weil ihnen die Decke auf den Kopf fällt oder weil sie einem familiären Streit aus dem Weg gehen müssen.

Eine Regierung, die meint, jetzt wäre die passende Zeit, einen Bußgeldkatalog zu erstellen, um Menschen zu bestrafen, die sich in diesen ungewöhnlichen und schweren Zeiten in eigenen schwachen Momenten nicht an den politischen Plan halten können oder wollen, zeigt damit nur den eigenen Mangel an Empathie und vor allem die Unfähigkeit, Prioritäten zu setzen. Jetzt sollte nicht bestraft werden; jetzt sollte geholfen werden.

Jetzt ist keine Zeit für eine harte Hand des Staates, der Menschen schuldig spricht. Wir leben in einer Zeit, in der Menschen Angst haben, krank zu werden und zu sterben, wenn sie sich anderen Menschen nähern. Wenn der andere Mensch allein schon durch seine pure Nähe oder Existenz zur Gefahr wird, wenn er entfernt werden muss aus dem eigenen näheren Umkreis, dann braucht es mehr Verständnis und weniger Verurteilung.

Ja, die momentanen Einschränkungen sind sinnvoll. Nicht umsonst setze ich sie gerade zusammen mit vielen anderen Bürgerinnen und Bürgern um, die auch nicht wissen, ob sie dadurch ihren bisherigen Lebensentwurf völlig über den Haufen werfen. Wir alle sind besorgt und wollen mehr Sicherheit. Der Tod der Freiheit kam jedoch immer mit dem Ruf nach mehr Sicherheit. Daher sollten wir ein paar Dinge bedenken.

Die Verfassung wurde für Zeiten der Krise geschrieben, nicht für glückliche Tage.

In der Phoenix Runde vom 20. März 2020 zum Beispiel erklärte der Digitalexperte der ARD, Jörg Schieb, gerade in dieser ungewissen Zeit müsse über weitere Möglichkeiten der Zensur nachgedacht werden. Er führte aus: „Zensur ist gar nicht so böse und schlecht wie manche immer glauben.“

Schieb argumentierte, da die deutschen Gesetze bereits Volksverhetzung und gewisse Formen der Pornografie unter Strafe stellen, könne man der Zensur durchaus auch etwas gutes abgewinnen und erklärte, Zensur sei nicht nur etwas, „dass uns was nimmt“, sondern Zensur sei auch etwas, „dass uns was gibt“.

Der Präsident der Berliner Ärztekammer, Günther Jonitz, erklärte in der selben Runde: „Im 19. Jahrhundert war sauberes Wasser die wichtigste Ressource für Gesundheit. Im 21. Jahrhundert ist sauberes Wissen die wichtigste Ressource.“

Ich hörte diese Worte und dachte mir: Was bitte ist dreckiges Wissen? Wer soll die Macht bekommen, Wissen zu reinigen und vor allem, welche Mittel zur Reinigung der Gedanken sind geboten? Mir kamen sofort wieder Assoziationen zu den Pestepidemien in Europa in den Sinn. Damals wurde auch jeder verurteilt, der es wagte, die Reinheit des herrschendes Wissens zu beflecken. Die Kirche zögerte nicht, alles zu zensieren, was in den Augen der Hüter des guten und wahren Wissens Schuld an der Pest war. Es war zudem die Zeit, in der Sündenböcke dafür verantwortlich gemacht wurden, die Pest verbreitet zu haben, indem sie das Wasser in Brunnen vergiftet hätten.

Gerade jetzt ist Kritik wichtig!

Nicht immer ist Kritik angemessen. Manchmal ist sie hart, manchmal unberechtigt, manchmal einfältig, dumm und falsch. Es gibt intelligente und dumme Personen. Menschen sind unterschiedlich. Manche regeln ihr Leben nach mathematischen Formeln, andere nach Bauernregeln. Es gibt Menschen, die glauben an Gott, andere umarmen Bäume, wieder andere nennen den Zweifel ihren besten Verbündeten. Sie alle aber tragen die Freiheit in sich und ordnen die Welt auf ihre Weise. Zudem haben alle Menschen die Fähigkeit, sich gegenseitig zu verständigen und sich zu einem gewissen Teil in die Situation des Gegenübers hineinversetzen zu können.

Natürlich lamentieren Menschen, wenn ihnen etwas genommen wird. Es ist vollkommen verständlich, dass in Ausnahmesituation auch mal dumme oder schmutzige Gedanke den Weg aus den Mündern jener finden, denen grade der Boden unter den Füßen weggezogen wurde, die um ihre pure Existenz bangen und die nicht wissen, ob sie wirtschaftlich oder beziehungstechnisch heil aus der Situation herauskommen. Die Menschen heute bangen zudem um ihre Gesundheit. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat selbst gesagt, dies sei „die größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg“.

Die Menschen, die mit voller Wucht von dieser Herausforderung getroffen werden, sollte man weder bestrafen noch ihnen das Recht nehmen, auch mal schmutzig zu reden oder schmutziges Wissen zu teilen. Ihnen sollte man stattdessen die Möglichkeit geben, sich so frei wie möglich für die Verantwortung entscheiden zu können. Dafür müssen sie aber auch Fehler machen dürfen, auch in der Krise. Daher sollte der eifrig erstellte Bußgeldkatalog schnell wieder verschwinden.

(Bild: Antonio Ruiz Tamayo)

Über tapferimnirgendwo

Als Theatermensch spiele, schreibe und inszeniere ich für diverse freie Theater. Im Jahr 2007 erfand ich die mittlerweile europaweit erfolgreiche Bühnenshow „Kunst gegen Bares“. Als Autor verfasse ich Theaterstücke, Glossen und Artikel. Mit meinen Vorträgen über Heinrich Heine, Hedwig Dohm und dem von mir entwickelten Begriff des „Nathankomplex“ bin ich alljährlich unterwegs. Und Stand Up Comedian bin ich auch. Mein Lebensmotto habe ich von Kermit, dem Frosch: „Nimm, was Du hast und flieg damit!
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