„Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen!“

Zum 115. Geburtstag der Philosophin Hannah Arendt veröffentlichte der Bühnenköbes Christian Bechmann vom Kölner Bühnenformat ESCHT Kabarett am 14. Oktober 2021 auf Facebook folgendes Zitat von Hannah Arendt: „Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen!“

Ein sogenannter „dpa-Faktencheck“ verdeckte daraufhin dieses Zitat, weil es aus dem Zusammenhang gerissen und zudem ohne Erläuterung unpassend sei.

Dann schauen wir uns mal das Zitat an.

Im Jahr 1964, als Hannah Arendt über den Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem berichtete, sprach sie mit dem Publizisten Joachim Fest. Dort kritisierte sie sehr scharf die „Dummheit, die so empörend war“ von Eichmann, sich ausgerechnet auf den Philosophen Immanuel Kant zu berufen, um sich so von der persönlichen Verantwortung und Schuld an der Vernichtung von Millionen Juden zu entledigen. Eichmann hatte erklärt, er sei sein Leben lang den Moralvorschriften Kants gefolgt und habe vor allem den Kantischen Pflichtbegriff zu seiner Richtschnur gemacht. Dazu erklärte Hannah Arendt:

„Ja. Natürlich eine Unverschämtheit, nicht? Von Herrn Eichmann. Kants ganze Moral läuft doch darauf hinaus, dass jeder Mensch bei jeder Handlung sich selbst überlegen muss, ob die Maxime seines Handelns zum allgemeinen Gesetz werden kann. […] Es ist ja gerade sozusagen das extrem Umgekehrte des Gehorsams! Jeder ist Gesetzgeber. Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen bei Kant.“

Hannah Arendt hat Recht. Für jeden, der die Philosophie von Immanuel Kant ernst nimmt, muss gelten: Niemand hat das Recht zu gehorchen!

Im Zuge der Demonstrationen gegen die staatlich erzwungenen Corona-Maßnahmen tauchte dieser Spruch vermehrt auf T-Shirts, Banner und Plakaten sogenannter „Querdenker“ auf. Diesen Umstand bemängeln einige selbsternannte Faktenchecker und mahnen, man möge auf den Kontext achten.

Dann schauen wir uns mal den Kontext an.

„Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen“ ist eine Formel, die Hannah Arendt benutzt, um die Philosophie der Eigenverantwortung von Immanuel Kant auf den Punkt zu bringen. Wir müssen uns daher mit eben dieser Philosophie der Eigenverantwortung von Immanuel Kant beschäftigen, um zu schauen, ob es berechtigt ist, mit diesem Spruch die aktuelle Coronapolitik zu kritisieren.

In dem Aufsatz „Was ist Aufklärung“ erklärt Immanuel Kant:

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. „Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ ist also der Wahlspruch der Aufklärung.

Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen, dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es Anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein.

Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, u.s.w., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. Dass der bei weitem größte Teil der Menschen den Schritt zur Mündigkeit, außer dem dass er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben.“

Zu den Beispielen, die Immanuel Kant anführt als Instanzen, die sich Menschen aussuchen, um an ihnen das verdrießliche Geschäft des Denkens zu delegieren, zählt er ausdrücklich auch den Arzt. Somit kann mit dieser Formel sehr gut die aktuelle Politik rund um Corona kritisiert werden, denn viel zu viele Menschen geben gerade aus Angst vor dem Virus viel zu viele Freiheiten auf.

Der Mensch hat die Fähigkeit, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen und sollte dies auch tun. Das bedeutet, dass der Mensch zwar auf die Wissenschaft hören soll, aber dennoch an den Aussagen von Wissenschaftlern zweifeln sollte. Der Zweifel ist schließlich der Motor der Entwicklung.

Aufgeklärte Menschen studieren zwar die Medizin, aber sie hören sich mindestens immer die Meinung von mindestens zwei Medizinern an. Am Ende nämlich muss jeder Mensch selbst entscheiden, wem er vertraut und dieses verdrießliche Geschäft kann ihm niemand nehmen.

Aufgeklärte Menschen brauchen keine Vormünder, die ihnen erklären, was sie zu tun und zu lassen haben. Sie brauchen keine Faktenchecker, die die Oberaufsicht über die Wahrheit gütigst auf sich nehmen. Niemand hat das Recht zu gehorchen bei Kant.

Dass Facebook und andere Instanzen sich nun ausgerechnet an diesem Satz von Hannah Arendt abarbeiten und sich dabei als Vormünder aufspielen, die darüber entscheiden, was überhaupt gelesen werden kann, indem sie Texte löschen, blockieren oder bewerten, entbehrt nicht einer gewissen Komik. Immanuel Kant hat es einst so formuliert.

„Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältig verhüteten, dass diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperrten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen droht, wenn sie es versuchen, allein zu gehen.“

Facebook behandelt seine User wie Hausvieh und die Nutzer lassen sich so behandeln. Niemand hat jedoch das Recht zu gehorchen, auch nicht einem dpa-Faktencheck.

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Über tapferimnirgendwo

Als Theatermensch spiele, schreibe und inszeniere ich für diverse freie Theater. Im Jahr 2007 erfand ich die mittlerweile europaweit erfolgreiche Bühnenshow „Kunst gegen Bares“. Als Autor verfasse ich Theaterstücke, Glossen und Artikel. Mit meinen Vorträgen über Heinrich Heine, Hedwig Dohm und dem von mir entwickelten Begriff des „Nathankomplex“ bin ich alljährlich unterwegs. Und Stand Up Comedian bin ich auch. Mein Lebensmotto habe ich von Kermit, dem Frosch: „Nimm, was Du hast und flieg damit!
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