„Vive Mutti“ – Wenn dein Land Mama zu dir sagt

Eine Betrachtung der Sprache von Maximilian Deeds.

Am Ende tendiert man ja oft zu Nostalgie. Ich glaube aber tatsächlich, Angela Merkels Status als, Umfragen zufolge, beliebteste Bundespolitikerin könnte ihre Amtszeit überdauern. Ins Bewusstsein der Menschen in Deutschland ist ihre Person fest eingebrannt.

Was ließen wir ihr über fast anderthalb Dutzend Jahren nicht an Beinamen zukommen, von Angie bis Angelo Merte. Sie alle zeugen von der kulturellen Auseinandersetzung mit einer Regierenden, die sich stets distanziert hielt aber gerade genug Zutraulichkeit bereitstellte, um einen Ödipus- Komplex zu provozieren.

Wenn am 8. Dezember 2021 ein Nachfolger gewählt wird, damit Merkel den Kohlschen Rekord nicht bricht, dann endet die einzige Kanzler:innenära, die es in meinem Erleben, in meiner politischen Anteilnahme je gab.

Der erste Bundestagswahlkampf, an den ich mich lebhafter erinnere, wurde 2005 ausgetragen und einige Jahre später als ich dann das erste Mal fragte: Können eigentlich alle Bundeskanzlerin werden?

Gerhard Schröder, Edmund Stoiber, sie alle kannte ich vom Sehen und Hörensagen, die Stimme aus Parodien im Radio und das karikierte Konterfei vom „Steuern runter macht Deutschland munter“ Aufkleber auf der blauen Mülltonne. Ich hatte ihn aus der BILD. Zuordnen konnte ich Schröder schließlich erst, weil er ihr unterlegen war.

Ich werde daher bestimmt auch immer Kanzlerin zum Regierungsoberhaupt sagen. Künftige Amtsträger sind da mitgemeint. Die oft überbetonte oder ihr abgesprochene Weiblichkeit dürfte dazu beigetragen haben, dass ich dieses Amt als implizit weiblich empfunden habe.

Natürlich ist es markant und feiernswert, wenn eine Frau zum ersten Mal das wichtigste Amt im Staat bekleidet. Dieses Ereignis sollte auch nicht dadurch verwässert werden, dass es fortan als Normalität gälte und daher nicht explizit erwähnt gehörte. Ohnehin halte ich es für schwachsinnig, Normalität zu erstreben. Sie wirkt auf mich unattraktiv und obendrein fluide und dann unrealistisch. Normalität zu fördern erstickt Fortschritt im Keim. Wir wollen nicht aufhören, zu feiern. Denn es war nicht normal und ist es nicht. Nein, eine Kanzlerin war super.

Aber vielleicht kamen viele öffentliche Stimmen auch nur über die Mutterrollen-Handhabe mit einer sie regierenden Frau klar. Das führte bald schon zu dem Spitznamen, der ihre mediale Begleitung geprägt hat wie kein anderer: Mutti.

Mutti lässt genug Platz zum Belächeln, eine Mutter darf aber eben auch als Frau im Weltbild vieler Chauvis mal durchgreifen. >>Ja, Mama… eyeroll<<.

In London habe ich Merkel 2013 auf einem Werbeplakat für die Biografie „The Chancellor and Her World“ mal als Bernsteinlady beschrieben gelesen. Damit kam sie vermeintlich immerhin besser weg als Britain’s very own Iron Lady. Frauenkarrieren im Spannungsfeld von hartem Material aus chemischen Verbindungen und Mutterschaft. Beide waren als Chefin keine Feministinnen und dadurch vielleicht die Größten.

Darüber hinaus eröffnet „Mutti“ aber auch einen möglichen weiteren Schluss: Deutsche sträubten sich 2005 bei aller wachsenden Verantwortung vor Anführer:innen. Keine:n Volksheld:in sollte es geben. Stattdessen wie Teenies rebellieren und über Mama klagen, doch am Ende brauchten sie dann doch ihre Milch. Naja, oder so ähnlich. Vielleicht war es auch etwas (weniger biologisch) mütterliches, das Deutschland im Allgemeinen fehlte. Selbst in Frankreich riefen sie ihr jüngst zu: „Es lebe Mutti!“

So französisch der erste Teil des Ausrufs, so haben sie uns abgenommen und übernommen, dass wir sie liebevoll Mama nennen. Vielleicht nicht wissend, dass der Ausdruck Mutti veraltet ist und als Bezeichnung eher abwertend und ganz allgemein Frauen ab einem gewissen Alter und bürgerlichen Format, auch kinderlose trifft. Unweigerlich sollten wir uns in Deutschland dennoch fragen, inwiefern dieser Eindruck von Glaubwürdigkeit auf unsere eigene Bedeutung schließen lässt.

Die Französ:innen haben schon ihre La France. Im Rahmen der Revolution soll etwa davon gesprochen worden sein, wie die Liebe zum Heimatland die Glieder der Kämpfer habe anschwellen lassen. Aber nach französischer Manier beschützt und stabilisiert werden, wie die geerbte, grazile, betörende, zerbrechliche, schutzbedürftige Schönheit vom Land des Vaters, musste das unbedingt standhafte, felsenfest kompromisslose, angriffslustige Deutschland in der Geschichte dem gemeinhinnigen Gefühl der Leute nach nicht.

Deutschland hat heute kein Bundesheer wie etwa Österreich, sondern eine Wehr. Diese wurde grundsätzlich, im Gegensatz zum Namensvetter Wehrmacht, tatsächlich vom verteidigenden Charakter aus gedacht, was einmal mit der Überführung des Reichsheeres in die Reichswehr nicht gelungen ist. Auf dem Weg zu einem neuen Selbstverständnis also schließlich auch einen mütterlichen Führungsstil wagen beziehungsweise projizieren, der sich nicht nach Kriegsheldentum anfühlt?

Der Glaube an ein tatsächliches Matriarchat Merkel ist natürlich noch irrwitziger als im Falle Heidi Klum bei Germany’s Next Topmodel. Aber als Mutter der Nation auf Zeit bekam Merkel irgendwo zwischen aller uniformen Professionalität einen Grad der Versöhnlichkeit in und intime Beziehung zu Teilen der sie umgebenden Bevölkerung hin, die wohl noch mehr vom Volk gewünscht war.

Ich interpretiere genau diesen Widerspruch als Quelle recht authentischer Bürger:innennähe. Links liegen gelassen oder auf Abstand gehalten werden möchte man von einer Mutti eben nicht, vor allem, wenn die tiefe Menschlichkeit bei Interviews, Fußballspielen oder politischen Gesten immer wieder durchblitzte. Das stachelte einige Menschen womöglich letztenendes regelrecht an, in ihrer Figur dann doch nach einer fast schon hegemonialen Verbindlichkeit zu suchen. Wer hat hier wem das Muttikonzept aufgedrängt?

Wie viel davon kalkuliert war, vermag ich nicht zu ermitteln. Ganz sicher geholfen hat ein Satz, wie beim TV Duell gegen Steinbrück: „Sie kennen mich“. Der Herausforderer redet sich also um Kopf und Kragen und so einfach erreicht einen dann eben nur Mutti. Schwups, wieder an der Brust, um beim schwierigen Milchmotiv von vorhin zu bleiben. Ob sich das ein Vati so erarbeitet hätte, ist fraglich. Sexismus muss sich auf die Beliebtheitswerte einer Person wahrlich nicht immer negativ auswirken. Unerfüllte, konventionelle Erwartungen können auch spielerisch herausfordernd wirken.

Mit Merkel wurden die Deutschen irgendwie nicht fertig. Und das, obwohl oder eben weil sie ständig merkelte. Sich aus Prekarität ein Denkmal bauen lassen, hat sie down to an art. „Mutti“ erlaubt eben Heroisierung und sofortigen Götzenmord gleichzeitig. Eine von uns, die auch nur mit Wasser kocht. Das ist eine Attitüde, eine Gewissheit in der Ansprache Mutti, welche die Unantastbarkeit nicht erfasst und trotzdem erträglich macht.

Civey ermittelte für web.de unlängst den hohen Zuspruch auch in meiner Generation, was einen Eindruck stützen kann, den ich schon in meinem Bekanntenkreis bemerke: Kaum jemand würde die Stimme der CDU geben, aber wir waren doch immer selig, wenn sie im Kanzlerinnenamt verblieb, oder? Kann ich ein Amen dafür bekommen?

Und wenn sie auch Mutti ist und nicht die Mutter Gottes, ist das eine Stärke. Denn Mutti kann man in Frage stellen, lässt aber im Endeffekt nichts auf sie kommen. Und Mutti ist so heilig, wie eine Heilige einem nie werden kann.

Aus meiner Sicht hat sie in dieser ellenlangen Zeit das Kanzlerinnenamt nahezu unbewohnbar gemacht und das Format demontiert. Oft war mir ihre Politik zu fluktuativ und zu träge an den jeweils falschen Stellen aber unter Angela Merkel war dieses Land ein Deutschland, das zuhört und so der Welt zeigen konnte, was es gelernt hat.

Profillos finde ich sie trotz ausgeprägter Beständigkeitsneigung und Visionenarmut gar nicht. Mäßigung erfordert Mut auf einer polemischen Weltbühne. Ruhige Gelassen- und Besonnenheit im Angesicht von Kritik und Lob erfordert Mut. Diplomatie erfordert Mut. Abwägung erfordert Mut. Konsens erfordert Mut. Mutti ist die Beste.

Danke Merkel.

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(TINMD)

Über tapferimnirgendwo

Als Theatermensch spiele, schreibe und inszeniere ich für diverse freie Theater. Im Jahr 2007 erfand ich die mittlerweile europaweit erfolgreiche Bühnenshow „Kunst gegen Bares“. Als Autor verfasse ich Theaterstücke, Glossen und Artikel. Mit meinen Vorträgen über Heinrich Heine, Hedwig Dohm und dem von mir entwickelten Begriff des „Nathankomplex“ bin ich alljährlich unterwegs. Und Stand Up Comedian bin ich auch. Mein Lebensmotto habe ich von Kermit, dem Frosch: „Nimm, was Du hast und flieg damit!
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