Bundeskanzler Olaf Scholz hat erklärt: „Es darf keine roten Linien geben, das hat uns diese Pandemie nun wirklich gezeigt.“
Was soll das heißen?
Die größte rote Linie unseres Landes ist unsere Verfassung. Mit dem Grundgesetz erklären die Bürgerinnen und Bürger Deutschlands, dass es gewisse rote Linien gibt, die keine Regierung jemals überschreiten darf. Egal, was auch immer passiert, einige rote Linien haben eine Ewigkeitsgarantie und dürfen von keiner Regierung unter keinen Umständen überschritten werden.
Das Grundgesetz ist eine rote Linie!
Mit seiner Aussage, es dürfe keine rote Linien geben, meint Olaf Scholz implizit auch die Grundrechte, das Grundgesetz und die verfassungsmäßige Ordnung. Es handelt sich somit um eine verfassungsfeindliche Aussage, getätigt vom Bundeskanzler Deutschlands, einem der mächtigsten Menschen des Landes. Im Grundgesetz steht im vierten Absatz des zwanzigsten Artikels:
„Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“
Solange Olaf Scholz nicht erklärt, dass es für ihn doch noch eine rote Linie gibt, nämlich das Grundgesetz, wird Deutschland von einem Bundeskanzler regiert, der die Verfassung unter Umständen für obsolet erklärt. Olaf Scholz sagt weiterhin:
„Wir sind ein Land, in dem sich die allermeisten an Gesetze halten.“
Zu diesen Allermeisten gehört Olaf Scholz nach eigener Aussage nicht, schließlich gibt es für ihn keine rote Linien mehr. Es gibt allerdings rote Ampeln:
„Wir halten vor roten Ampeln an. Wir achten die Verkehrsregeln. Nicht weil uns überall gleich die Polizei kontrolliert. Sondern weil es zu unserer Natur gehört, dass wir uns an solche Regeln halten.“
Es gehört zu der Natur des Menschen, zu gehorchen? Ich dachte, es gibt keine rote Linien. Was gilt denn nun, Herr Bundeskanzler? Und überhaupt, man zeige mir den Menschen, der noch niemals über eine rote Ampel gegangen ist, weil er in der konkreten Situation, mit keinem Verkehr in der Nähe, sich und seiner Bewertung der Gefahr mehr vertraut, als der roten Ampel.
Der Mensch ist ein vernunftbegabtes Wesen. Der Mensch ist Mensch, weil er Regeln aufstellen und brechen kann, weil er gehorchen und Widerstand leisten kann.
Gehorsam ist nur ein anderes Wort für Zustimmung und Unterstützung.
Es ist immer Vorsicht geboten, wenn mächtige Menschen mit der vermeintlichen Natur des Menschen argumentieren. Es ist nämlich nicht die Natur des Menschen zu gehorchen. Es ist in der Vernunft des Menschen zu zweifeln. Der Mensch ist frei, weil er in die Verantwortung geworfen wurde. Der Mensch hat keine Ausreden. Er hat nur die eigene Selbstverantwortung. Das ist seine Freiheit. In dem Aufsatz „Was ist Aufklärung“ führt Immanuel Kant aus:
„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. „Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ ist also der Wahlspruch der Aufklärung.
Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen, dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es Anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein.
Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, u.s.w., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. Dass der bei weitem größte Teil der Menschen den Schritt zur Mündigkeit, außer dem dass er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben.“
Im Jahr 1964, als Hannah Arendt über den Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem berichtete, sprach sie mit dem Publizisten Joachim Fest über diese Philosophie bei Kant und kritisierte sehr scharf die „Dummheit, die so empörend war“ von Eichmann, sich ausgerechnet auf Kant zu berufen, um sich so von der persönlichen Verantwortung und Schuld an der Vernichtung von Millionen Juden zu entledigen. Eichmann hatte erklärt, er sei sein Leben lang den Moralvorschriften Kants gefolgt und habe vor allem den Kantischen Pflichtbegriff zu seiner Richtschnur gemacht. Hannah Arendt führt aus:
„Ja. Natürlich eine Unverschämtheit, nicht? Von Herrn Eichmann. Kants ganze Moral läuft doch darauf hinaus, dass jeder Mensch bei jeder Handlung sich selbst überlegen muss, ob die Maxime seines Handelns zum allgemeinen Gesetz werden kann. […] Es ist ja gerade sozusagen das extrem Umgekehrte des Gehorsams! Jeder ist Gesetzgeber. Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen bei Kant.“
Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen.
Bundeskanzler Olaf Scholz fällt nun weit hinter Hannah Arendt und Immanuel Kant zurück und erklärt, es gehöre zu der Natur des Menschen, sich an Regeln zu halten und somit zu gehorchen.
Nein, es gehört zu der Vernunft der Menschen, sich zu Regeln zu verhalten. Dazu gehört auch die Möglichkeit, Widerstand zu leisten. Genau dieser menschlichen Begabung zur Vernunft trägt Artikel 20 Absatz 4 des Grundgesetzes mit dem Recht auf Widerstand Rechnung. Es ist eine klare rote Linie.
Wer diese rote Linie negiert, negiert die Menschlichkeit.

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