Ein Lobgesang von David Serebrjanik.
Pathetischsein ist in Deutschland nicht wirklich beliebt. Wahrscheinlich zurecht. Jedenfalls fiel es mir zunehmend schwer, meinen mit Muttermilch eingesogenen und eingeübten russischen Pathos mit fortschreitenden Dauer meines Aufenthaltes in Deutschland auszuüben. Ich fühlte mich immer belächelter und nicht verstandener, wenn ich zu großen Lobgesängen für irgendjemanden oder irgendetwas ausholte. Aber jetzt gerade ist es mir egal und ich werde gleich der Überschrift meines Lobgesanges alle Ehre machen. Denn ich habe einen Theaterabend erleben dürfen, den man wahrscheinlich nur ein einziges mal im Leben erleben kann. Zu groß war die Beteiligung des Herrn Zufall an diesem Ereignis. Und zu großartig die schauspielerische Arbeit von Gerd Buurmann. Und zu packend und atemberaubend das Stück, das er aufgeführt hat. Und zu brillant die Bearbeitung und Inszenierung dieses Stückes durch Burkhard Schmiester.
Also, bin ich gerade dabei, mich damit abzufinden, dass es ein einmaliges Einmalereignis sondergleichen war, das sich nur einmal einmal ereignen kann. Ich erzähle es am besten vom Ende.
Am Ende gab es Standing Ovations. Desdemona verliess gerade den Raum des Gretchen-Klubs in Berlin, nein, Desdemona verliess gerade ihr Leben durch eine Hintertür des Gretchen-Klubs in Berlin, mit der Frage Warum? auf ihren Lippen. Warum tat Othello das, was er tat? Warum brachte er seine heissgeliebte, abgöttisch geliebte Frau um? Die Antwort findet und sucht sich während des ganzen Stückes. Und wird nie gesucht und gefunden. Desdemona geht.
Kurz davor standen Othello und Jago, ineinander verwirbelt, ineinander eingefügt, auf der Bühne. Jago im Othello. Othello über Jago. Jago schimmerte aus dem weißen Othello mit seinem Pechschwarz.
Wahrscheinlich ist das die Antwort. Desdemona geht, weil Jago im Othello. Desdemona geht, weil Othello über Jago. Desdemona geht, weil Othello nicht mehr Othello. Das alles bringen die Schauspieler auf der Bühne zum Vorschein. Moment. Den letzten Satz hätte ich über eine „normale“ Othello-Aufführung geschrieben. DIE Schauspieler? Nein – DER Schauspieler. Gerd Buurmann. Er allein steht an diesem Abend auf der Bühne, er allein geht auf dem unsichtbaren Seil der Verwandlung in alle Hauptprotagonisten. Und er geht nicht. Er nimmt, was er hat. Sich. Und fliegt damit. Fliegt aus der Höhe der Vergötterung und Liebe in den Abgrund des Hasses und des Mordes. Die Erdanziehung dabei ist Jago. Die Flügel – Desdemona. Am Ende stürzt Othello und bricht die Flügel.
Am Ende kommt Gerd Buurmann wieder auf die Bühne und verbeugt sich vor dem stehend Beifall klatschenden Publikum. Das Publikum bin ich. Im Raum sind ausser mir der Regisseur des Stückes Burkhard Schmiester und ein Security-Mitarbeiter des Klubs, der sich irgendwann dazugesellt hat. Ich war der einzige zahlende Besucher. Und Gerd Buurmann hatte die Größe, den Mut, also die Großmutigkeit, das Stück trotzdem zu spielen. Und es wurde zu einem für mich unvergesslichen Theaterabend. Auch unvergesslich war dann die mit Gerd durchsspazierte Nacht in Berlin. Aber es ist eine andere Geschichte.
Danke, Gerd!
(Bilder von Antonio Ruiz Tamayo)
(TINDS)