Woher nimmst Du die Zeit und Kraft, über all die Dinge zu sprechen? Ganz einfach: Es bedarf deutlich mehr Zeit und Kraft, um zu schweigen!
In meiner Kindheit war ich Messdiener in dem kleinen Dorf Haren-Erika. Dort habe ich die komplette katholische Erziehung erhalten: Taufe, Beichte, Kommunion, Firmung, Missbrauch – das volle Programm. Der Missbrauchsskandal in meiner Heimat wurde deutschlandweit bekannt. Im Jahr 1996 berichtete der Spiegel:
„Im Zollgrenzörtchen Haren-Erika an der holländischen Grenze sind die Straßen wie mit dem Lineal gezogen. Die Bewohner dulden kein Unkraut in ihren Rosenbeeten, und die Zierzäune vor ihren Haustüren sind immer frisch gelackt. Auffallend ist auch ein Kruzifix aus massivem Stein, das sich vor dem Gehöft des Bauern Josef Bonnarens erhebt. Bonnarens ist ein handfester Anfangsfünfziger im karierten Baumwollhemd und zählt zu den Dorfpatriarchen von Haren-Erika. Er gehört zu den Schlüsselfiguren einer Tragödie, die fast zehn Jahre unter Verschluss gehalten wurde und die die rund 1000 Erikaner nun doch mit voller Wucht getroffen hat.
Jahrelang hatte der Dorfpfarrer der Marienkirche ihm anvertraute Kommunionskinder und Messdiener sexuell mißbraucht. Bonnarens war schon früh über einen der ersten Fälle informiert. Doch der Mann schwieg. Und er schweigt bis heute. Wie er schweigt das ganze Dorf.
Die Bürger von Haren-Erika wünschen sich, daß diese furchtbare Geschichte nicht wahr ist, obwohl der Täter gestanden hat. Sie wollen nicht glauben, daß vorgefallen ist, wofür ihr ehemaliger Gemeindepfarrer Alois Bruns, 64, am vergangenen Mittwoch zu – überaus milden – zwei Jahren Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt wurde: Von 1987 bis 1995 hat der Geistliche 14 Jungen aus dem Ort 227mal sexuell bedrängt, hat sie unsittlich berührt und gestreichelt. Und das, was vor Gericht verhandelt wurde, ist nur ein Teil der Vorgänge in Haren-Erika, wie aus der Anklageschrift hervorgeht.
Zunächst offenbarten sich über 20 Geschädigte, doch dann war ein Teil der Eltern plötzlich „nicht mehr an Strafverfolgung interessiert“, heißt es bei der Polizei. Die gläubigen Bürger von Haren-Erika hatten am Ende doch mehr Respekt vor ihrer Kirche, die den Geistlichen schützen wollte, erklärt Friedrich Lücken, Anwalt betroffener Eltern, den Mechanismus. Das alles sei doch „aufgebauscht“, lautet nun die gängige Formel im Ort.
Es fing an im April 1987. Die Nachricht erreichte Bonnarens, damals noch stellvertretender Vorsitzender des Kirchenvorstandes, telefonisch: Ein achtjähriger Junge war vom Pfarrer der Marienkirche mißbraucht worden und sei nun völlig verstört, erklärte eine Verwandte des Buben. Der Priester hatte das Kind nach dem Kommunionsunterricht dabehalten, es auf seinen Schoß gesetzt, Hose und Unterhose heruntergezogen und sein Geschlechtsteil betastet.
„Überlegen Sie sich das gut mit der Anzeige, wenn Sie in Zukunft friedlich in Erika leben wollen“, rieten Bonnarens und der Kirchenvorstandsvorsitzende den Eltern unmissverständlich.“
An Herrn Bonnarens muss ich jedes Mal denken, wenn Kritik verteufelt wird.
In dem Dorf, in dem ich groß wurde, war Schweigen die große Tugend. Wer sich dem kollektiven Schweigegelübde widersetzte, galt schnell als „Netzbeschmutzer“. Als ich mit neunzehn Jahren das Thema des Missbrauchs durch meinen Pfarrer auf die Bühne meines Ortes brachte, titelte die lokale Zeitung:
„Inszenierung bis an die Grenzen des Geschmacks“
„Mutig sind sie schon, Gerd Buurmann, Christoph Lammers, Mella Ebel und Hanno Schulz, die jetzt zum zweiten Mal im Forum des Schulzentrums als Kabarettgruppe ‚Kulturschock‘ auftraten und es in keiner der rund dreistündigen Veranstaltung an Deutlichkeit fehlen ließen. (…) Kein Thema, und sei es noch so tabuisiert in einer Kleinstadt, war ‚Kulturschock‘ zu heiß. Da wird die ‚braune Vergangenheit‘ in Verbindung gebracht mit dem 9. November 1992 als vor einem Geschäft in Haren ein Reisigbesen Sinti und Roma das Betreten desselben vermiesen soll, die pädophile Vergangenheit eines ehemaligen Pastors gegeißelt und die Haltung der Amtskirchen dazu. Kindererziehung, Konsumverhalten und das ‚Einflößen von Gottesangst‘ wurden ebensowenig ausgespart wie der Geschichtsunterricht in Schulen, Reality-TV, Fernsehkonsum, Talkshows, die aktuelle Stadt- und Bundespolitik. Bewundernswert der Mut der vier Harener, in ihrer Heimatstadt so offen aufzutreten. Dennoch kann nicht verschwiegen werden, daß an manchen Stellen die Symbolik der Handlung übertrieben war und damit trotz künstlerischer Freiheit nicht mehr im Bereich akzeptablen Geschmacks lag.“
Mit dem akzeptable Geschmack war ich damals schon im Clinch. Heute ist es nicht anders, denn ich schweige nicht, nicht damals, nicht heute, nicht morgen. Reden ist keine Schande. Schweigen, wo Unrecht geschieht, ist eine Schande!
Das Gegenteil von Krieg ist nicht Frieden, es ist Schöpfung! Wenn ich gefragt werde, was ich Menschen rate, denen was Schlimmes zugefügt wurde, sage ich folgende fünf Sätze:
Schweige nicht. Du bist stark! Es ist nicht Deine Schuld. Entmachte den Täter. Weigere Dich, das Opfer zu sein.
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