Ein Verderben im Lande

Am 18. Oktober 2020 erhielt Benedikt Brechtken eine Nachricht mit freundlichen Grüßen von Twitter:

Aufgrund einer Beschwerde zu einem Inhalt auf seinem Account hatte Twitter den betroffenen Inhalt überprüft und beschlossen, diesen Beitrag für Deutschland zu sperren: „Gemäß entsprechender Gesetze und unserer Richtlinien hat Twitter den gemeldeten Inhalt in Deutschland zurückgezogen.“

Um was für einen Inhalt handelt es sich?

Man muss sich außerhalb der Grenze von Deutschland befinden, um diesen Inhalt noch sehen zu können. Wenn man nicht in Deutschland lebt, sieht man, dass es sich um diesen Inhalt handelt:

Da stellt sich mir die Frage, welches Gesetz sorgt dafür, dass ich diesen Inhalt in Frankreich, Schweden, Polen, Belgien und vielen anderen Ländern sehen kann, nicht aber in Deutschland?

Da Twitter keine weiteren Informationen bietet, bleibt mir nur die Spekulation.

Im Strafgesetzbuch steht unter §166: „Wer öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften den Inhalt des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses anderer in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“

Interessant bei dieser Formulierung ist, dass der öffentliche Friede nicht mal gestört sein muss, es reicht, wenn die Handlung geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören. Im Koran steht in Sure 5:

„Deshalb haben Wir den Kindern Israels verordnet, dass, wenn jemand einen Menschen tötet, ohne dass dieser einen Mord begangen hätte, oder ohne dass ein Unheil im Lande geschehen wäre, es so sein soll, als hätte er die ganze Menschheit getötet; und wenn jemand einen Menschen das Leben hält, es so sein soll, als hätte er der ganzen Menschheit das Leben erhalten. Und unsere Gesandten kamen mit deutlichen Zeichen zu ihnen; dennoch, selbst danach beginnen viele von ihnen Ausschreitungen im Lande. Der Lohn derer, die gegen Allah und seinen Gesandten Krieg führen und Verderben im Lande zu erregen trachten, soll sein, dass sie getötet oder gekreuzigt werden und dass ihnen Hände und Füße wechselweise abgeschlagen werden oder dass sie aus dem Lande vertrieben werden. Das wird für sie eine Schmach in dieser Welt sein, und im Jenseits wird ihnen eine schwere Strafe zuteil.“

Kurz zusammengefasst bedeutet dies folgendes:

„Wir haben den Juden verordnet, wer tötet, tötet eine ganze Welt. Für Euch aber gilt, wenn jemand ein Verderben im Lande anrichtet, dann hackt ihnen die Hände und Füße ab.“

Offenkundig stört der Koran mit diesen Worten nicht den öffentlichen Frieden, denn er kann frei und ohne Auflagen öffentlich vertrieben werden. Dafür wird Kritikern des Islams jedoch oft vorgeworfen, den öffentlichen Frieden durch ihre Kritik zu stören.

Der Ausdruck „Verderben im Lande“ ist in etwa so klar definiert wie „öffentlicher Friede“. Weniger ungenau und geradezu konkret werden Koran und Strafgesetzbuch jedoch, wenn es darum geht, was mit den Leuten geschehen soll, die ein „Verderben im Lande“ anrichten oder den „öffentlichen Frieden“ stören. Das Strafgesetzbuch sieht eine Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren vor. Der Koran jedoch sieht Vertreibung, Kreuzigung oder wechselweise Hände und Füße abhacken vor, je nach Stimmungslage und ortsüblicher Tradition.

§166 StGB wird oft als ein Paragraf missverstanden, der die Gotteslästerung unter Strafe stellt. Das macht dieser Paragraf jedoch mitnichten. In Deutschland ist es selbstverständlich erlaubt, Gott zu lästern. Auch Religionen dürfen verballhornt und ins Lächerliche gezogen werden, selbst unter Verwendung obszöner Worte und unter Zuhilfenahme von polemischen Bildern. Charlie Hebdo ist in Deutschland nicht verboten.

§166 StGB gibt dem Staat nicht das Recht, inhaltlich, ästhetisch oder moralisch über Meinungen und Aussagen zu Religionen und Gott zu urteilen. Das Beschimpfen von Religionen und Weltanschauung ist nicht verboten. Allerdings gibt dieser Paragraf dem Staat die Möglichkeit, das Beschimpfen von Bekenntnissen zu ahnden, wenn damit der „öffentliche Friede“ gestört wird. Das bedeutet, je unentspannter und gewaltbereiter Mitglieder einer Religionsgemeinschaft auf Urteile über ihren Glauben reagieren, umso eher ist der „öffentliche Friede“ in Gefahr.

§166 StGB ist klassische Täter-Opfer-Umkehr in ein Gesetz gegossen.

Der Mord an den Filmemacher Theo van Gogh im Jahr 2004, die brutalen Ausschreitung nach der Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen in Dänemark im Jahr 2005, die Morde an die Künstlerinnen und Künstler von Charlie Hebdo im Frühjahr 2015 und die brutale Ermordung von Samuel Paty zeigen, dass es eine Menge Muslime gibt, die die Sure 5 des Korans als Rechtfertigung für Gewalt auslegen. Sie stören den „öffentlichen Frieden“ um gegen jene vorzugehen, die „Verderben im Lande“stiften.

Mit §166 StGB werden nicht jene belangt, die zur Gewalt greifen, sondern jene, gegen die sich die Gewalt richtet.

So wie es Menschen gibt, die Frauen das Tragen eines zu kurzen Rocks vorwerfen, wenn sie vergewaltigt wurden, so macht §166 StGB die Kritiker von Religionen zu Tätern, wenn sich durch ihre Aussagen Fanatiker bemüßigt sehen, zur Gewalt zu greifen.

So wie es Länder gibt, die Frauen zwingen, sich zu verhüllen, da sie andernfalls den „öffentlichen Frieden“ mit ihren „Reizen“ stören würden, so verhüllt §166 StGB Aussagen über Religionen, wenn es Menschen gibt, die diese Aussagen als Beschimpfungen wahrnehmen und sich dadurch so gereizt fühlen, dass der „öffentliche Friede“ in Gefahr ist.

§166 StGB ist ein Kopftuchzwang fürs Verballhornen.

Das Strafgesetzbuch honoriert die Gewaltbereitschaft religiöser Fanatiker und extremer Ideologen.§166 StGB lädt notorisch beleidigte Leberwürste der Religionen geradezu ein, eine Störung der öffentlichen Ruhe herbeizuführen, um dadurch ihren Willen einer missverstandenen Ehre durchzusetzen.

Was immer uns Fundamentalisten glauben machen wollen, Worte, Bilder, Kunstwerke und Zeichnungen vermögen es nicht, den öffentlichen Frieden zu stören. Es sind religiöse Menschen, die den öffentlichen Frieden stören, wenn sie nicht in der Lage sind, mit harscher Kritik, wüstem Spott und bitterer Polemik ebenso umzugehen wie Politikerinnen, Schauspieler, Köche, Lehrerinnen und alle anderen Menschen.

Nicht die Kritiker mit den zu kurzen Röcken sind das Problem, sondern die religiösen Vergewaltiger mit ihren fundamentalistischen Überzeugungen.

Kein Gott braucht das deutsche Strafgesetzbuch. Ein Gott, der das deutsche Strafgesetz braucht, um seine Macht zu manifestieren, ist ein armseliger Gott.

Sollte Twitter nicht aufgrund von §166 StGB den Inhalt für Deutschland gesperrt haben, welches Gesetz könnte es dann sein?

Am 30. Juni 2017 verabschiedete der 18. Deutsche Bundestag in Anwesenheit von weniger als hundert Abgeordneten das Netzwerkdurchsetzungsgesetz.

Vielleicht ist es auch das Netzwerkdurchsetzungsgesetz.

Mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz werden soziale Netzwerke wie Twitter unter empfindlicher Strafandrohung in die Position einer privatisierten Exekutive gezwungen, um als Beliehener des Staates in Abwesenheit einer Rechtssprechung pro­phy­lak­tisch Aussagen zu löschen, die angeblich, vermutlich oder vielleicht gegen das deutsche Gesetz verstoßen sollen.

Mit diesem Gesetz werden private Unternehmen mit Zwang zu einer Aufgabe verpflichtet, an der sie nur scheitern können. Dieses Gesetz sorgt dafür, dass Unternehmen wie Twitter im Zweifel kritische Aussagen zu kriminellen Aussagen erklären und sperren, um nicht mit dem deutschen Gesetz in Konflikt zu kommen.

Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz sorgt für eine massive Einschränkung in die Presse- und Meinungsfreiheit aus Angst vor (Sprach)-Terror.

Gerade in einem Land, in dem es einen Paragrafen wie §166 StGB gibt, ist ein Netzwerkdurchsetzungsgesetz hoch problematisch, denn es gibt repressiven Gruppen die Möglichkeit durch massives Melden von Inhalten Kontrolle darüber zu erlangen, welche Meinungen veröffentlicht werden.

Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz ist zwangs-privatisierte Zensur!

Wo sich der Mensch einer kollektiven Ideologie unterwirft, wo das Individuum in einem Mob verschmilzt und sich in der Legion der Vielen auflöst, wird es gefährlich. Der Mob lässt andere Meinungen nicht zu und erklärt stattdessen, Worte seien Gewalt, nur um so dann tatsächliche physische Gewalt gegen den Redner rechtfertigen zu können. Der Mob erklärt jeden Abweichler und jeden Kritiker zu einer Gefahr, gegen die auch Gewalt angewendet werden darf. Es ist schließlich Notwehr.

Der Mob beherrscht die Netzwerke.

Es gilt: Bringe nur genug Menschen gegen Dich auf und eine Sperrung wird sehr wahrscheinlich. Das ist auch der Grund, warum in sozialen Netzwerken so oft offen judenfeindliche Beiträge nicht gelöscht werden, während schon leicht islamkritische Beiträge verschwinden.

Es gibt über 1,6 Milliarden Muslime auf der Welt, aber nicht mal 16 Millionen Juden. Auf einen Juden kommen hundert Muslime. Es ist viel leichter, eine große Anzahl von Muslimen zu finden, die sich durch eine Aussage beleidigt fühlen und mag sie noch so harmlos sein, als eine große Anzahl von Juden, die sich durch eine Aussage beleidigt fühlen und mag sie noch so brutal sein.

Immer wieder kommt es bei vor, dass vollkommen akzeptable Kritik am Islam in sozialen Medien gelöscht wird und die Kritiker mit langen Sperren belegt werden, während offen judenfeindliche Aussagen nicht gelöscht werden. Über 1,6 Milliarden Muslime weltweit eigenen sich offensichtlich besser für das Schaffen eines Mobs als 16 Millionen Juden.

In einer aufgeklärten Demokratie herrschen nicht die Masse und der Mob, sondern die Vernunft und das Menschenrecht.

Die Grundrechte des Einzelnen können nicht durch eine Mehrheit abgeschafft werden. Judenhass fand und findet oft eine Mehrheit und war und ist dennoch immer falsch.

Der Mantel des Schweigens ist für die Redefreiheit das, was der Schleier und das Kopftuch für die Rechte der Frau ist. Jede Frau darf selbst entscheiden, ob sie einen Schleier tragen möchte und jeder Mensch darf selbst entscheiden, ob und zu was er schweigen und reden will. Es darf keinen Zwang geben, weder für den Schleier noch für den Mantel des Schweigens und unter keinen Umständen darf es einem Mob überlassen werden, darüber zu entscheiden, was gesagt werden darf.

Das Gefühl der Masse darf nie über die Vernunft des Individuums siegen.

Sollten Sie mich, Gerd Buurmann, in meiner Arbeit als Autor, Künstler oder Betreiber von „Tapfer im Nirgendwo“ unterstützen wollen, überweisen Sie gerne einen Betrag Ihrer Wahl auf mein Konto oder nutzen Sie PayPal.

https://www.paypal.me/gerdbuurmann

Über tapferimnirgendwo

Als Theatermensch spiele, schreibe und inszeniere ich für diverse freie Theater. Im Jahr 2007 erfand ich die mittlerweile europaweit erfolgreiche Bühnenshow „Kunst gegen Bares“. Als Autor verfasse ich Theaterstücke, Glossen und Artikel. Mit meinen Vorträgen über Heinrich Heine, Hedwig Dohm und dem von mir entwickelten Begriff des „Nathankomplex“ bin ich alljährlich unterwegs. Und Stand Up Comedian bin ich auch. Mein Lebensmotto habe ich von Kermit, dem Frosch: „Nimm, was Du hast und flieg damit!
Dieser Beitrag wurde unter Deutschland, Kunst, Liberalismus, Philosophie, Politik veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Alle Kommentare werden nur zeitlich begrenzt veröffentlicht!

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s