Fürchtet Euch nicht!

In einem Gottesdienst in einer Baptistengemeinde in Frankfurt am Main infizierten sich rund zweihundert Menschen mit Corona. Es gab über zwanzig positiv getestete Kirchgänger nach einer Andacht in einer Karlsruher Freikirche. Auch in Bremerhaven gab es nach einem Gottesdienst über fünfzig Infizierte. Mir ist kein ähnlich gelagerter Fall von einem Theater bekannt. Was aber beschließt die Regierung? Gottesdienste dürfen weiter stattfinden. Theater müssen geschlossen werden.

Wir Theatermenschen haben uns stets in voller Verantwortung für unsere Gäste an alle Hygienemaßnahmen gehalten. Wir haben die Bestuhlung teilweise auf einen schmerzhaften Bruchteil des Möglichen zurückgefahren; wir haben Trennwände aus Plexiglas aufgestellt; wir haben das Personal verdoppelt und verdreifacht, um dafür zu sorgen, dass Abstände und Hygienestandards eingehalten werden; wir haben die Daten der Gäste erfasst und die Rückverfolgbarkeit sichergestellt; wir haben den Menschen, die zu uns gekommen sind, ein paar schöne Momente in der Krise ermöglicht und sie haben diese Momente genossen.

Unser Publikum sehnte sich so sehr nach dem Theater, alle waren sogar bereit, dafür die ganze Zeit Masken zu tragen.

Essen, trinken und atmen machen auch sämtliche Tiere. Wenn es etwas gibt, das uns Menschen im Wesen von Tier unterscheidet, dann ist es vor allem unsere Fähigkeit, Kunst und Kultur zu erschaffen. Die Begabung, Geschichten zu erzählen und Bilder zu ersinnen, zeichnet uns als Menschen aus. Diese Gabe macht uns besonders relevant.

Kultur ist kein Bonus der Menschheit. Kultur ist die Menschheit.

Menschen gehen in die Kirche oder in die Moschee, um dort Gott zu ehren. In ein Theater jedoch gehen die Menschen, um den Menschen zu ehren und zwar in all seinen Facetten, in seinen guten und schlechten Momenten, in seiner erhabensten und in seiner niedrigsten Erscheinung, in seiner Fähigkeit zu leiden, zu weinen, zu genießen und zu freuen sich.

All dies wird uns im traurigen Monat November genommen, mit der Begründung, Gottesdienste genießen Verfassungsrang. Ich war lange Zeit der Auffassung, dass Kunst und Kultur durch Artikel 5 des Grundgesetzes auch Verfassungsrang genießen, aber so sieht es unsere Bundesregierung offensichtlich leider nicht.

Kunst und Kultur müssen Verfassungsrang genießen!

Solange Gottesdienste in Deutschland öffnen dürfen, solange wir den Wert dieser Freiheit so hoch erachten, dass selbst eine Pandemie diese Freiheit nicht einschränken darf, muss eben dieser Mut zur Freiheit auch für das Kulturleben gelten. Eine Welt, die bereit ist, Gott zu ehren, muss auch bereit sein, den Menschen zu ehren.

Fürchtet Euch nicht! Der Nächste ist liebenswert und es gibt immer Möglichkeiten, den Nächsten zu lieben, auch in Zeiten der Gefahr.

In den Supermärkten werden in dieser Zeit wieder Spekulatius und Adventskalender angeboten. Während sich Christen auf das Weihnachtsfest vorbereiten und sich an ein hochschwangeres Ehepaar erinnert, das keine Herberge fand, gelten in Deutschland Beherbergungsverbote. Der Junge, den das Paar zu Welt brachte, wurde später Rabbiner, der kein besonderer Verfechter des Social Distancings war. Er näherte sich den Kranken, berührte sie und gab ihnen die Hand. Als er geboren wurde, verkündete ein Engel:

„Fürchtet Euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird.“

Das Virus greift uns dort an, wo wir am verletzlichsten sind, dort, wo wir Menschen sind. Das Virus verbreitet sich unter Freunden, bei Familienfeiern, auf Hochzeiten, Gottesdiensten und Geburtstagen, dort, wo Menschen im engen Kontakt zusammenkommen, leben, lieben, lachen und singen. Es sind die Orte, wo sich Menschen berühren, umarmen, küssen oder in der Botschaft des Friedens die Hand geben.

Das Virus überträgt sich durch Liebe und Zuneigung. Sollen wir deshalb die Liebe abschaffen? Sollen wir uns einfach nicht mehr nahe kommen und uns nicht mehr umarmen? Sollen wir alles meiden, was fremd ist? Sollen wir nicht mehr zusammen sein und uns stattdessen abschotten?

Leben bedeutet nicht nur überleben.

Ich möchte nicht in einer Welt leben, in der sich die Menschen gegenseitig als Gefahr wahrnehmen. Das Leben ist gefährlich. Freiheit ist schmutzig. Absolute Sicherheit gibt es nicht, außer vielleicht auf dem Flughafen und im Krankenhaus.

Es gibt kaum einen Ort auf der Welt, der sicherer ist als ein Flughafen. Allerdings ist der Flughafen auch ein Ort, wo ein Brötchen mit Kaffee siebzehn Euro kostet. Im Krankenhaus wiederum gehört das Essen nicht zu den Dingen, an die man sich gerne erinnert.

Das Krankenhaus und der Flughafen sind absolut sicher, aber beide Orte zeichnen sich auch dadurch aus, dass man dort nicht verweilt, sondern schnell wieder verlassen möchte. Sie sind Zwischenorte, durch die man schreitet, um zum eigentlichen Leben zu gelangen.

Das eigentliche Leben, darum geht es. Kunst und Kultur dreht sich um dieses eigentlich Leben. Theater sind Orte, die uns daran erinnern, was das Leben so intensiv, besonders und lebenswert macht.

Haben wir den Mut, diese Orte zu öffnen und zu verteidigen.

Sollten Sie mich, Gerd Buurmann, in meiner Arbeit als Autor, Künstler oder Betreiber von „Tapfer im Nirgendwo“ unterstützen wollen, überweisen Sie gerne einen Betrag Ihrer Wahl auf mein Konto oder nutzen Sie PayPal.

https://www.paypal.me/gerdbuurmann

Über tapferimnirgendwo

Als Theatermensch spiele, schreibe und inszeniere ich für diverse freie Theater. Im Jahr 2007 erfand ich die mittlerweile europaweit erfolgreiche Bühnenshow „Kunst gegen Bares“. Als Autor verfasse ich Theaterstücke, Glossen und Artikel. Mit meinen Vorträgen über Heinrich Heine, Hedwig Dohm und dem von mir entwickelten Begriff des „Nathankomplex“ bin ich alljährlich unterwegs. Und Stand Up Comedian bin ich auch. Mein Lebensmotto habe ich von Kermit, dem Frosch: „Nimm, was Du hast und flieg damit!
Dieser Beitrag wurde unter Christentum, Deutschland, Kunst, Liberalismus, Philosophie, Politik, Theater veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.