Wir haben von nichts gewusst!

In welchem Jahr und an welchem Ort fand folgendes Ereignis statt?

Am Donnerstag, den 8. Januar, einem kalten Tag mit eisigem Wind, versammelten sich zehntausend Menschen auf den Straßen und riefen „Tötet die Juden!“ und „Schlachtet die Juden ab!“ Auf Flugbättern wurden Menschen aufgefordert, „ihren Müll vor der Synagoge zu entleeren“ und „grosse Schweinsköpfe auf dem Friedhof zu platzieren“.

Wenn Sie annehmen, dass sich das oben beschriebene Szenario in einer deutschen Stadt zwischen 1936 und 1945 abgespielt hat, so haben Sie recht, aber es gibt noch eine weitere Antwort: Das Ereignis fand im Jahr 2009 in Oslo statt! In seinem Essay The Anti-Jewish Riots in Oslo beschreibt Eirik Eiglad die Geschehnisse in Norwegen aus dem Jahr 2009:

„Soweit ich das beurteilen kann, haben wir hier das grösste Ausmass antijüdischer Ausschreitungen in der Geschichte Norwegens. Selbst vor und während des 2. Weltkrieges, als es starke antisemitische Vorurteile gab, als die Politik die Juden offen diskriminierte und die nazifizierte Staatspolizei jüdisches Eigentum konfiszierte und Juden auf das entsetzliche Sklavenschiff SS Donau deportierte  – selbst damals erlebte Norwegen keine antijüdischen Ausbrüche dieses Ausmasses. Es gibt in Norwegen keine Vorgeschichte mutwilliger antijüdischer Massengewalt.“

Fassungslos lese ich den Bericht und frage mich: „Warum habe ich nichts davon gewusst?“ Und dann erschrecke ich auch schon über die Aussage in meiner Frage: „Ich habe davon nichts gewusst!“

Vedammt, jetzt ist es auch mir geschehen! In Europa fand zu meiner Lebzeit eine antijüdische Ausschreitung statt und sie ist an mir vorüber gegangen. Wie konnte das geschehen? Wo waren die Medien? Wo war ich? Wo waren unsere Bedenkenträger? Wo war ich? Wo waren unsere Politiker? Wo war ich? Wo waren unsere Gerade-wir-als-Deutsche-Deutsche? Wo war ich? Wo waren unsere Antifaschisten? Wo waren wir? Wie konnte das Ereignis so erschreckend leise an uns vorüber gehen?

Am Donnerstag, den 8. Januar 2009 riefen auf den Straßen Oslos ungefähr zehntausend Menschen auf arabisch „Tötet die Juden!“ und „Schlachtet die Juden ab!“ Ein Flugblatt wurde verteilt, auf dem die Menschen aufgefordert wurden, „ihren Müll vor der Synagoge zu entleeren“ und „grosse Schweinsköpfe auf dem Friedhof zu platzieren“. Es folgten Aufrufe, die israelische Botschaft in Brand zu setzen, und einige Demonstranten gingen zum Botschaftsgebäude, das sie schwer bewacht vorfanden. Darauf zertrümmerten sie die Fenster eines nahegelegenen Schönheitssalons, der einem bekannten Schwulen gehört.

Am nächsten Tag stellte die Tageszeitung Dagbladet auf ihrer Internetseite ein Video ein, das Jugendliche dabei zeigt, wie sie einen 73-jährigen Mann bedrohen und dabei rufen: „Verdammter Jude – schnappt ihn!“

Zwei Tage später schlossen sich Tausende zu einem Marsch auf die israelische Botschaft an. Eiglad berichtet, viele hätten auf arabisch „Tod den Juden!“ gerufen. Andere riefen „Sprengt die Botschaft in die Luft!“ und sogar „Vergast die Botschaft!“ Militante Teilnehmer stellten sogar Kinder zwischen sich und die Polizei.

In den Tagen der Ausschreitungen wurden viele Menschen verprügelt und verletzt, wenn sie als pro-israelische Demonstranten oder als Juden auffielen. Jon Gunnar Aksnes wurde sogar am 8. Januar so schwer verletzt, dass er sein Leben lang entstellt bleiben wird. Zuerst wurde mit einer Fahnenstange auf ihn eingeprügelt und dann ging eine Bande mit Schlagstöcken auf ihn los. Ein Journalist des Staatsfernsehens sah ihn blutend zu seinem Bus zurückkehren und filmte ihn. Als Aksens jedoch berichtete, wer auf ihn eingeschlagen hatte und das er Teilnehmer einer pro-israelischen Demonstration war, liess der Reporter die Kamera rasch abschwenken.

Langsam wird mir klar, warum ich nichts davon erfahren habe.

Unter den Teilnehmenden der pro-palästinensischen Demonstrationen, die zu dem Pogrom führten, befanden sich viele Sozialisten. Auch Kristin Halvorsen, die Vorsitzende der linken Sozialisten – damals Finanzministerin und heute Bildungsministerin – war zugegen.

Langsam wird mir wirklich klar, warum ich nichts davon erfahren habe.

Der moderne Judenhass versteckt sich hinter dem Satz „Man wird ja wohl noch Israel kritisieren dürfen“. Wie diese Kritik aussieht, konnten wir im Januar 2009 in Oslo sehen: „Tod den Juden!“ Haben wir jemals ähnliche Rufe bei Irankritik, Nordkoreakritik, Deutschlandkritik, Amerikakritik und Liechtensteinkritik gehört? Gibt es eine solche Form der Kritik überhaupt?

Hätte es 1938 schon Israel gegeben, dann wäre vermutlich auch die Reichspogromnacht bei vielen als „Israelkritik“ durchgegangen.

Über tapferimnirgendwo

Als Theatermensch spiele, schreibe und inszeniere ich für diverse freie Theater. Im Jahr 2007 erfand ich die mittlerweile europaweit erfolgreiche Bühnenshow „Kunst gegen Bares“. Als Autor verfasse ich Theaterstücke, Glossen und Artikel. Mit meinen Vorträgen über Heinrich Heine, Hedwig Dohm und dem von mir entwickelten Begriff des „Nathankomplex“ bin ich alljährlich unterwegs. Und Stand Up Comedian bin ich auch. Mein Lebensmotto habe ich von Kermit, dem Frosch: „Nimm, was Du hast und flieg damit!
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