Das letzte Coming Out

Ein Nachdenken über Demenz von Antonio Ruiz Tamayo.

Demenz ist im Grunde das letzte, schwere Coming Out des alten, gebrechlichen Menschen. Es ist ein Coming Out, das niemand möchte. Es ist das Zugeständnis, dass das Leben, wie er war, vorbei ist.

Es ist eine letzte Verpuppung zu einem pergamentartigen, flugunfähigen Winterschmetterling mit zerfransten Rändern und krummen Fußgliedern. Ich kann verstehen, dass man dagegen ankämpft. Man wird extrem dünnhäutig und misstrauischer. Man vertraut immer weniger Menschen, weil man manche erkennt, aber andere auch wieder nicht.

Paranoia ist eine gekonnte Angst, schon im Voraus zu denken und zu verdächtigen.

Menschen mit Demenz begeben sich in eine Lauerstellung, weil immer mehr fremde Menschen in ihr Heim eindringen und ihnen immer mehr von ihrer Autonomie nehmen, bewusst oder unbewusst.

Das Leben erlebt eine Verformung.

Für Hilfen bei Einkäufe sind sie dankbar und das wird bejaht, Hilfen der Körperreinigung wiederum erleben sie als Übergriffe in ihre Persönlichkeitsrechte. Sie können nicht mehr aufhalten, was schon längst im vollen Gange ist: Die Zerteilung ihres Lebens.

Was früher ihre Keimzelle war, ihr geheimes Epizentrum, wird ihnen nun Scheibe für Scheibe abgezogen und am Ende bleibt ein nacktes Kind, das von Fremden gewaschen werden soll.

Diese Männer und Frauen befinden sich mitten in einer Transformation, zusammen mit all den verschiedenen Persönlichkeiten ihres Lebens, dem Kind, dem Mädchen, der reifen Frau, dem Liebhaber, der Mutter, dem Vater, der Chefin, dem Bruder, der Schwester, der Geliebten und all den anderen Masken und Kostümen des Ichs. All diese Figuren zerbrechen und stehen sich als Scherben gegenüber. Jede klagt die andere an.

Diese inneren Kämpfe können nur allein durchmacht werden. Es ist unmöglich, von außen rational auf Menschen in diesem Prozess einzuwirken. Jedes Argumente schält sie weiter und legt immer mehr die eigene Zerbrechlichkeit und Empfindlichkeit offen.

In diesem Coming Out fragt sich ein Mensch mit Demenz immer wieder: „Aber was ist mit mir? Wo ist da noch Platz für mich?“

Das Ego kämpft! Es kämpft gegen den Zerfall an. Es kämpft um den Status Quo, um das eigene stolze Leben.

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(TINART)

Über tapferimnirgendwo

Als Theatermensch spiele, schreibe und inszeniere ich für diverse freie Theater. Im Jahr 2007 erfand ich die mittlerweile europaweit erfolgreiche Bühnenshow „Kunst gegen Bares“. Als Autor verfasse ich Theaterstücke, Glossen und Artikel. Mit meinen Vorträgen über Heinrich Heine, Hedwig Dohm und dem von mir entwickelten Begriff des „Nathankomplex“ bin ich alljährlich unterwegs. Und Stand Up Comedian bin ich auch. Mein Lebensmotto habe ich von Kermit, dem Frosch: „Nimm, was Du hast und flieg damit!
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